Die Wahrheit: Rührend ungelenk
„Experten des Alltags“ erobern die Welt. Die Wahrheit stellt die fünf wichtigsten Versuchsexemplare aus Theater und Wirklichkeit vor.
![Ein Mann putzt eine Theaterbühne Ein Mann putzt eine Theaterbühne](https://taz.de/picture/993843/14/Wahr_AufFrTheat.jpeg)
Ein bekanntes Hamburger Theater hat kürzlich Flüchtlinge gefragt, ob sie Lust hätten, in einem neuen Stück mitzuspielen, um auf großer Bühne authentisch von ihren Erfahrungen zu erzählen. Haben sie nicht. Sie hätten bereits in so vielen Theaterstücken mitgespielt, lautete ihre Antwort, sie würden gern auch mal wieder Zeit für was anderes haben, zum Beispiel für ihren Papierkram. Ob auf großen Staatsbühnen oder muffigen Provinzbrettern, ob mit Obdachlosen, ausgebrannten Managern oder Problemjugendlichen: Laien, Laien, alle lieben Laien. Kein progressives Theaterstück kommt mehr ohne die „Darsteller der Wirklichkeit“ aus, die unverfälscht aus ihrem schweren Leben berichten. Das ist ein starkes Konzept, das auch andernorts Fuß fassen sollte. Die Wahrheit stellt fünf Lebensbereiche vor, die dringend nach „Experten des Alltags“ schreien.
1. Banker
Als schnöden „Alltagsmenschen“ will sich John Cryan, Vorstandschef der Deutschen Bank, zwar selbst nicht sehen, doch auch der Bildungsbürger mit den Krokodilslederkrawatten experimentiert gern mit Laien: „Auch wir borgen uns oft mal Amateure aus – zum Beispiel von der Commerzbank!“ Vom Theater habe es schon oft wichtige Impulse gegeben, weiß der britische Kulturkenner. „Exzessive, ritualisierte Gebärdensprache, unartikulierte Laute, Schreien und Heulen – ja, kommen Sie mal kurz vor Börsenschluss in unsere Hauptfiliale!“ Ob jedoch Cryans eigene, aalglatte Bankenkarriere tatsächlich so stimmig ist? Wer seine verhornten Fingerkuppen und seine verlebten Gesichtszüge sieht, dem kommen ganz leise Zweifel, doch der „Berufsbanker“ hüllt sich geheimnisvoll in Schweigen.
2. Gotteskrieger
Dass sie in Sachen Progressivität ganz vorn mitspielen, haben die Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates längst bewiesen, vor allem mit ihrem Social-Media-Einsatz: Twitter-Tweets ohne Ende, bis zu 250 Salven pro Minute. Berufssoldaten mit Tunnelblick anwerben? Die Terrortruppe winkt ab. Zu zaghaft, viel zu verschult. Lieber rekrutiere man den urwüchsigen Mann von der Straße, unbedarfte Alltagsmenschen aus Europa: drei Tage Crash-Kurs im syrischen Camp und eine Gehirnwäsche gratis – und die frisch gebackenen Gotteskrieger meucheln frisch drauflos.
3. Makler
Über den „progressiven“ Einsatz von Laien kann Jens-Ulrich Kießling vom „Immobilienverband Deutschland“ nur müde lächeln. „Das machen wir doch schon immer. Das ist unsere Essenz! Profi-Makler?“ Kießling lacht ein dreckiges Lachen. „Das ist ein köstliches Oxymoron! Wie soziale Marktwirtschaft oder Fifa-Ethikkommission!“ Seit jeher sei die Immobilienhökerei ein Auffangbecken für Alltagsmenschen ohne echte Profession, das sei kein Geheimnis. „Makler sind an Liebe leer, aber reich an Lebenserfahrung. Wenn auch selten schöner!“
4. Politiker
Keine menschliche Sphäre gilt als derart abgehoben, als so meilenweit weg von den Nöten der Menschen, wie die Parteipolitik. Doch damit ist jetzt Schluss. Nicht ein, nicht zwei, sondern 67 Experten des Alltags schickt die SPD bei der kommenden Landtagswahl in Baden-Württemberg ins Rennen! Aufgelesen von der Straße, in Trinkstübchen, Solarien oder Wettbüros. Herrlich ungelenke Laien als Polit-Laien, die mit ihrer authentischen Art an die Lebenswelt der Normalbürger andocken, die rührend unbedarft drauflosschwatzen wie vor ihnen allenfalls Edmund Stoiber. „So viel Wirklichkeit war nie!“, jubelt der SPD-Chef Sigmar Gabriel.
5. Bayern
„Pah, innovativ! Wir als Bayern experimentieren schon lange mit Laien!“, kontert Markus Söder und reißt sein Anzughemd vom Leib, dass darunter ein blutbesprenkeltes Unterhemd aufblitzt: „Jaa, auch ich bin ein Experte des Alltags! Im richtigen Leben bin ich ein obdachloser Schweineschlachter mit Flüchtlingswurzeln! Meine öde Parteibiografie war und ist frisiert!“ Der sonst so selbstbeherrschte Bayern-Apparatschik kennt plötzlich kein weiß-blaues Halten mehr: „Aber damit nicht genug: Ich bin auch ein Amateur des Alltags! Two in one! Wenn ihr da draußen, außerhalb Bayerns, mich sehen würdet, wie ich morgens meine Unterhose im Halbschlaf verkehrt herum anziehe … zum Schießen!“
Übrigens: Authentische Menschen kann man auch andernorts sehen, zum Beispiel durch das Fenster. Stundenlang kann man ihnen zusehen, wie sie unverfälscht durch die Straßen schlunzen, einander herrlich zur Sau machen oder mit Schokoladeneis ihre Kleidung bekleckern – und das alles für umsonst. Oder man schaut einfach in den Spiegel. Denn man selbst ist ja auch kein Niemand, man ist ebenfalls ein Experte des Alltags. Ein irgendwie erhebender Gedanke.
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