Die Wahrheit: Teuflische Augenblicke
Die Augen sind der Spiegel der Seele, so dass ein Optiker an einem Arbeitstag faszinierenderweise mehr verlorene Seelen zu sehen bekommt als der Teufel persönlich.
D ie Augen sind der Spiegel der Seele, so dass ein Optiker an einem Arbeitstag faszinierenderweise mehr verlorene Seelen zu sehen bekommt als der Teufel persönlich.
Um systematisch nachzuprüfen, was das In-die-Augen-Schauen bezüglich des Seelenheils anrichtet, habe ich mir daher neulich eine „Empirische Woche des Augenkontakts“ verordnet. Der Bäckereifachverkäufer war am Montag der erste Kandidat.
Normalerweise wandert mein Blick beim Bestellen nie über die Höhe der Laugenstangen auf der zweiten Etage des Verkaufstresens hinaus. Dieses Mal schaute ich ihm fest in die kleinen, mit blonden Wimpern kaum geschmückten Klüsen, und sagte: „Zwei Knollis und ein Franzbrötchen“. Ertappt senkte er den Blick, und stopfte hastig zwei Dinkelseelen in die Tüte. Aber ich ließ nicht locker: „Ich habe gesagt Knollis“, betonte ich, und schaute ihm wiederum direkt in die Iris. Er reagierte panisch, ließ die Papiertüte fallen und stolperte rückwärts aus dem Verkaufsraum in die Backstube, wo ich ihn gedämpft schluchzen hörte: „Ich kann das nicht tun! Das erinnert mich zu sehr an die Passkontrolle damals!“ Kurze Zeit später bediente mich seine Kollegin, die eine Sonnenbrille trug.
Beflügelt durch den Erfolg starrte ich beim Einsteigen in den Bus am Dienstag in die dunklen Augen einer Busfahrerin, die darob so erschrak, dass sie mir drei Euro zu wenig für die Tageskarte abrechnete. Mein Blick schien sie intensiv berührt zu haben – meiner Aufforderung, mich bereits an der Kreuzung herauszulassen, an der ich wohne, und nicht erst an der 300 Meter entfernten Bushaltestelle, kam sie anstandslos nach. „Geht doch!“, rief ich höhnisch, und schaute beim Aussteigen noch mal in ihre Richtung. Sie senkte rasch den Kopf und befingerte ein Nazar-Amulett, das neben dem überdimensionalen Rückspiegel hing.
Am Mittwoch versuchte ich eine Kassiererin zum Weinen zu bringen, als ich auf ihr „Schönen Tag noch!“ mit einem festen Blick in ihre murmelgleichen, unter falschen Seidenwimpern schimmernden Pupillen reagierte, und auch nicht aufhörte, als sie längst den Warentrenner wieder auf das Laufband gestellt hatte. Sie schien geistesgegenwärtig den Hilfeknopf unter dem Band gedrückt zu haben, denn augenblicklich stand der Geschäftsführer neben mir.
„Alles in Ordnung?“, fragte er, und blickte mich an. Ich blickte zurück. Nichts passierte. Die Sekunden verrannen, ich beobachtete seine Tränenkarunkel, und hatte urplötzlich den Eindruck, dass seine Pupillen eine gelbliche Färbung annahmen. Mir wurde unbehaglich.
„Ist was?“, fragte er wieder, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich schwitzte. Mein Herz schlug mir bis in die Ohren. Geschlagen senkte ich die Lider und hastete fort, gefolgt vom Applaus der Kollegen. Eine kleine Wolke Schwefel hatte sich neben mir durch die Schiebetür gedrängt.
Noch auf dem Parkplatz konnte ich das sardonische Lachen des Geschäftsführers hören. Es klang wie am Ende von Michael Jacksons „Thriller“.
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