Die Wahrheit: Ist dieser der Nächste?
Der Film hat vor einer Viertelstunde angefangen. Doch ich stehe allein vor dem Kino. Einige Tauben kommen näher und fragen sich wohl, ob ich eine Statue bin.
Ich bin mit Freunden verabredet. Die aber nicht gekommen sind. Als Caro an ihr Handy geht, erfahre ich, dass meine drei Freunde seelenruhig bei Caro zu Hause ein Video gucken.
"Wie?", fragt Caro. "Heute? Nee, heute ist doch Filme gucken bei mir!" - "Nein", sage ich, "heute ist Film gucken mit mir. Im Kino. Heute ist nämlich Samstag." - "Das ist doch nächsten Samstag!", erwidert sie. "Nein", sage ich, "wir haben am Mittwoch telefoniert. Und da haben wir gesagt: ,nächsten Samstag!'" - "Genau!", sagt Caro. "Nächsten Samstag. Nicht diesen Samstag."
Wenn ich mich mittwochs mit Freunden verabrede und sage "nächsten Samstag", dann meine ich den Samstag, der am nächsten ist. Schließlich ist "nächsten" der Superlativ von "nah". Und näher als der auf den Mittwoch folgende Samstag kann kein Samstag sein. Dennoch meinen meine Freunde mit "nächsten Samstag" den zehn Tage entfernten. Und das verteidigen sie vehement: Der Samstag in drei Tagen sei keinesfalls der "nächste", sondern der "kommende", auch "dieser Samstag" genannt. Hier, so sagen sie, liege der entscheidende Unterschied: "Dieser Samstag" sei ein anderer Samstag als der "nächste Samstag".
"Das ist doch total unlogisch!", sage ich. "Ich sage ja auch nicht ,nächstes Jahr', wenn ich in Wahrheit das Jahr nach dem kommenden meine!" - "Du hast ja keine Ahnung!", sagen meine Freunde übers Telefon. Sie sind sich darüber einig, dass ich doof bin und dass "dieser Samstag" selbstverständlich mit dem nächsten nichts gemein hat.
"Ach, ihr habt sie doch nicht mehr alle!", sage ich. "Wenn ich in einem Taxi fahre und sage: ,Nächste rechts, bitte!', dann fährt der Fahrer auch nicht die zweite rechts rein, oder?" - "Doch, wenn man nämlich ganz, ganz kurz vor der Querstraße ist, dann sagt man auch ,die nächste' und meint die zweite." - "Das ist sprachlich ja genauso falsch!" - "Quatsch! Jeder versteht das, nur du nicht!", entgegnen meine Freunde ungehalten. "Du willst uns einfach nicht verstehen?", fragt Caro. "Verstehen?!? Ich verstehe Deutsch, und ihr nicht!", halte ich dagegen. "Stellt euch doch mal vor, ich wäre beim Arzt im Wartezimmer. Früh morgens, der erste Patient. Wenn die Arzthelferin kommt und sagt, ,Der Nächste, bitte', wer ist dann dran?" - "Also bei meinem Arzt rufen sie einen immer mit Namen auf." - "Ist doch jetzt völlig egal!", rufe ich zornig. "Wer ist der ,Nächste' im Wartezimmer?!? Na??" - "Du natürlich." - "Falsch! Der nächste ist doch der nach mir", schreie ich ins Handy, "zumindest nach eurer Logik! Das hieße, der erste Patient des Tages, auch ,dieser Patient' genannt, käme niemals zum Arzt, weil die da immer nur ,Der Nächste, bitte' sagen!!!"
Resignierend legt Caro auf. Kurze Zeit später schreibt sie eine SMS, dass sie am Samstag, welchem auch immer, keine Lust mehr auf Kino habe. Kopfschüttelnd setze ich mich auf eine Bank und warte auf die Bahn. In drei Minuten kommt die nächste. Oder … diese?
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Nach Absage für Albanese
Die Falsche im Visier
Nach Taten in München und Aschaffenburg
Sicherheit, aber menschlich
Treibhausgasbilanz von Tieren
Möchtegern-Agrarminister der CSU verbreitet Klimalegende
Ägyptens Pläne für Gaza
Ägyptische Firmen bauen – Golfstaaten und EU bezahlen