Die Wahrheit: Gott mit Narben
Ich habe einem alten Mann bei der Arbeit zugesehen. Eigentlich ist es nicht schön, wenn alte Menschen arbeiten müssen, hier ist es ein Glück, dass er will. ...
... Und es ist ja auch gar nicht so oft möglich, jemandem tatsächlich bei der Arbeit zuschauen zu können. Sparkassenangestellte sieht man praktisch gar nicht mehr vor lauter Bankautomaten und Onlinebanking. Verkäuferinnen gehören zu den wenigen, die man direkt beim Schaffen und Wirken beobachten kann. Und Pfarrer. Manchmal Bauarbeiter.
Ich habe einem alten Mann bei der Arbeit zusehen können. Der Mann heißt Iggy und stand mit bloßem Oberkörper auf der Bühne des Open Flair Festivals. Lebendig wie der Leibhaftige, irrwischig und spastisch. Iggy Pop.
Wer Glück hatte und backstage sein durfte, hatte noch mehr Glück und durfte auf der Bühne selbst stehen, am Bühnenrand, also fast direkt neben ihm und seiner Band, den Stooges. Ich hatte Glück.
Iggy Pop ist ein Leguan, wie es außer ihm im Rock n Roll nur noch Keith Richards gibt. Sein Körper zuckte und zackte. Er kam mächtig ins Schwitzen, aber bei ihm sah das gut aus. Dabei scheint allerhand an ihm im Eimer zu sein, Hüfte und Hacken, sonst wären Gang und Sprünge so gar nicht möglich. Sein Körper wirkte, als wäre er bereits von Gunther von Hagens plastiniert worden.
Mit bloßem Oberkörper stürzte er auf die Bühne und sprang ins Publikum. Das war so irritiert, dass es ihn wieder auf die Bühne stellte. Iggy Pop sprang zurück in die Menge. Dann lief er wie ein Duracell-Hase durch die Szene. 64 Jahre alt. Das Publikum war so fasziniert, dass es sogar zu springen vergaß.
Eine junge Studentin sah, wie er sich langsam die Jeans durchschwitzte. "Wie der schwitzt!" Iggy schien ihren Ruf gehört zu haben. Er stapfte zu einem Scheinwerfer direkt neben uns. Nur vier Meter entfernt! Blau bestrahlt stand er da. Ein hageres Wesen von einem anderen Planeten. Regelrecht vernarbt schien er zu sein. Der Schweiß strömte in Bahnen von seinem Körper. Die Studentin trug Gummistiefel und stand mitten in diesem Strom. Verwirrt sagte sie: "Das ist jetzt aber etwas eklig." Ich hätte ihm beinahe jeden Schweißtropfen einzeln vom Körper geleckt.
Iggy Pop ist der erste Punk und der letzte Mohikaner. Ein Überlebender. Hätte Amy Winehouse sich doch nur in ihn verliebt und nicht in den bescheuerten Blake Fielder-Civil. Iggy hätte sie gerettet. Einst Harald und Maude, jetzt Iggy und Amy. Ich träumte von Wiederauferstehungen.
Iggy sprang erneut ins Publikum. Dann war das Konzert zu Ende. Er stand da und stampfte auf und trommelte wild auf seiner Brust. Er hatte das Publikum niedergerungen. Eine Frau hauchte: "Iggy ist Gott". Neben mir erkannte ich Christof, "die Stimme der Vernunft" von den Wohnraumhelden, selbst ein Gigant an der Gitarre. Auf seinem glühenden, von roten Locken umkränzten Gesicht verschwanden die Falten der Rock-n-Roll-Jahre und wichen einem Mona-Lisa-Lächeln. Und er sprach: "Ich habe ihn gesehen. Iggy. Jetzt kann ich sterben!"
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