Die Wahrheit: Kein Notdienst gegen Langeweile
Der Autor setzt sich an seinen Schreibtisch, sieht das leere Blatt und schläft ein. So war es jedenfalls bei mir, jahrelang und grundsätzlich. ...
... Eines Tages hielt ich es nicht mehr aus. Im Schlafanzug ging ich zur Wohnung nebenan und klingelte. Als die Nachbarin öffnete und mich erstaunt ansah, sagte ich: "Ich langweile mich." - "Zu früh", erwiderte die Frau, "der Notdienst beginnt um 20 Uhr, jetzt ist es erst 19 Uhr."
Ich war nicht gewillt, eine weitere Stunde zu warten. "Zu früh ist nie zu spät", brachte ich in meiner Not vor. Die Nachbarin ergab sich und forderte mich mürrisch auf, ihr in die Wohnung zu folgen. Da war es allerdings auch langweilig.
"Wir können etwas fernsehen", lautete der Vorschlag der Frau. Hätte es nicht etwas anderes sein können? Zum Beispiel hätten mich in dieser Situation Naturwissenschaften interessiert: Biologie, Quantenphysik, Buchführung etc. Aber Fernsehen! Eine mir völlig fremde Welt! Was wurde da verhandelt! Und wie! Sie machten viel Aufhebens um die Quadergeburt von Waldbröl, dann gab es Sendungen über Phantomkatzen, einen bewaffneten Konflikt ("Jetzt wird zurückgetötet!") und einen Ratgeber, der nicht stubenrein war. In diesem Zusammenhang war von einer Ratlosigkeitsschleife die Rede, in der der moderne Mensch gefangen sei, und irgendwann trat ein Mann namens Schmidt auf, der machte für viel Geld Gesäßgrimassen.
"Schalten Sie das bloß aus!", verlangte ich, doch die Nachbarin antwortete mit einem schneidenden: "Still!" Ich, dessen Lebensmitteleinkäufe Legende sind, musste mir weiter all diesen Unrat gefallen lassen. Nach einer ausgedehnten Werbepause hieß es, etwas sehr Großes, Schweres werde aus der Höhe herabfallen und ausnahmslos alles zermalmen. Da sei bedauerlicherweise nichts zu machen, sprach ein Experte, man könne der Sache nirgendwohin ausweichen, denn die ganze Welt befinde sich doch im Pfandhaus. Ich wand mich vor Langeweile.
Als Nächstes kam ein Spielfilm mit Leuten, die sich für Geld verstellten. Auch wieder langweilig! Und überhaupt nicht überzeugend. Ich konnte nicht an mich halten und redete dazwischen: "Wenn ich einen Film drehen müsste, dann über Menschen, die unsichtbar werden, sobald sie einschlafen. Das wäre etwas ganz Seltenes. Ich überlege, ob diese Menschen nicht auch unsichtbar würden, wenn sie in Ohnmacht fielen. Was wäre bei Vollnarkose? Wie soll man Personen operieren, die unsichtbar sind? Sehen Sie, das wäre einmal ein interessantes Thema!"
Die Nachbarin schlug mit einem Stock nach mir, weil ich nicht dankbar für die mir gewährte Gastfreundschaft war. Als dann gesungen wurde, versuchte ich verzweifelt, mir die Schallwellen vom Leib zu halten. Dumpf hörte ich noch, wie die Nachbarin mich geradezu feindselig anherrschte: "Mein Gott, wie kann ein Mensch nur versuchen, sich seinen Schlafanzug in die Ohren zu stopfen!" Ich hielt es nicht mehr aus, raffte meine Genitalien, nein, falsch, korrigiere: meine blauen Flecken an mich und lief zurück zur Langeweile meines Schreibtischs.
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