Die Wahrheit: Stangentanz durch die Straßen ...
... der Hauptstadt: Über die angebliche Trendsportart „Buildering“, also „Urban Climbing“, kann ich nur lachen.
ber die angebliche Trendsportart „Buildering“, also „Urban Climbing“, bei der junge Leute ohne Sicherungsseile über Straßen, Mauern und an den Wänden ihrer Stadt hochklettern, kann ich nur lachen. Seit Jahren betreibe ich in meinem Kiez und den anliegenden Stadtteilen den um einiges eleganter wirkenden und anspruchsvolleren Trendsport „Urban Pole Dancing“. Ich trage dabei ein Paar Gogo-Highheels mit rot glitzernden 14-Zentimeter-Absätzen, eine schwarze Netzstrumpfhose, einen spitzenbesetzten Langarmbody Ouvert und Latexhandschuhe.
Auf meiner Route sprinte ich zum nördlichen Ampelmast an der Kreuzung Mehringdamm Ecke Yorckstraße und mache einen „Climb“ bis auf die Höhe des etwa seit 1998 dort hängenden „Hole Ihre Elektrogeräte (auch Videorecorder), zahle 5 Mark“-Zettels. Ich kreuze die Füße oberhalb des Zettels um den Mast, lasse den Oberkörper elegant bis zum „Katze Kylie entlaufen“-Papier hängen, umfasse nach einem schlangenähnlichen „Spin“ bei „Junges Paar, Freiberufler, zahlt 200 Euro für die erfolgreiche Vermittlung einer Wohnung!“ den Pfahl, und schwinge meine Beine hinterrücks, aber sicher wieder auf den Boden.
Nur 500 Meter weiter wartet die Wanderbaustelle am SPD-Haus. Das Baugerüst stellt eine besondere Herausforderung dar, ich nenne es „Asien-Parcours“ – dort sind die Stangen dünner. Ohne, dass einer der bulligen Securitymänner vor dem Haupteingang mich wahrnimmt, grätsche ich direkt in Höhe des ersten Stocks an die Stange vor Andrea Nahles’ Büro, werfe ihr einen verruchten Blick zu, und bevor sie ans Fenster eilen kann, bin ich schon an der stabilen Mikrofonangel eines just angekommenen ZDF-Teams wieder hinuntergerutscht.
Ich pfeife „Zwischen Kreuzberg und Mitte / da steht ein Gerüst / da werden die Mädchen / elektrisch geküsst“, während ich mich an die Stange eines Bohrgeräts für Spezialtiefbau hänge, und zur Überraschung der Touristen einige Moves turne, während der Laster mit dem Bohrgerät in die Wiener Straße fährt.
Dort, in der größten Feuerwache Kreuzbergs, kennen mich die Kollegen schon und räumen bereitwillig Anzüge, Schläuche und Helme aus dem Weg, während ich zur Rutschstange tanze, mit einem „Super Climb“ den Kopf durch die Luke im Obergeschoss stecke und freundlich grüße. Mithilfe eines anstrengenden „Kneeholds“ gleite ich aufreizend langsam herunter, muss allerdings kurz vor dem Erdgeschoss einen Zahn zulegen, weil der Feueralarm losgeht und der bullige Oberbrandmeister nachrutschen möchte.
Dienstags trainiere ich im nahen Görlitzer Park mit einer wellnessinteressierten Frauengruppe noch ein paar „Eco Pole Dancing“-Stretches an besonders geraden Kiefern, wir tragen dazu beigefarbene, lockere Yoga-Klamotten aus ökologischer Baumwolle und machen das alles nur für uns. Meinen Traum, beim Fahneneid als Überraschung für die Truppe oben aus der Trikolore zu rutschen, habe ich seit Aussetzung der Wehrpflicht 2011 ausgeträumt. Doch 2016 sind wir bei den Olympischen Spielen in Rio dabei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!