Die Wahrheit: Der letzte Walzer
Martin Walsers Tagebuch gefunden! Bretagne, Linz, Lissabon, Stuttgart, Innsbruck – und zurück zu Hause in Nußdorf am Bodensee.
Immer noch sucht Martin Walser nach seinem verlorenen Tagebuch. Der 85-jährige Schriftsteller hatte es während einer Zugfahrt von Innsbruck nach Friedrichshafen liegen lassen. Inzwischen wurde es gefunden und der Wahrheit zugespielt, die heute zum letzten Mal Auszüge aus dem Alterswerk des vergesslichen Künstlers veröffentlicht.
Juli, Bretagne
Wieder im Chalet. Sommerflirren, Grillenklirren, Weinseligkeit. Das erfüllende Gefühl, wenn einem der Kopf langsam taub wird. Wenn die Fantasiawelten die Macht übernehmen und die Bilderboten des Rausches schicken. Des Tagdenkers Träume. Käthe schläft im Kühlen, im Schatten der Hund.
Bretagne, Chalet
Haben für ein paar Tage Herbert und Karin zu Gast. Heute Morcheln auf dem Markt gekauft. Tage wie Rhythmusmaschinen der Gleichförmigkeit. Im Morgendiesel erhebt sich das leise Schnaufen der Schwimmenden aus dem Pool, während Käthe das Frühstück bereitet. Am Mittag drängt einen die Hitze ins kühle Innen des Hauses, erst mit dem späten Nachmittag kommt mit uns das Leben zurück auf die Terrasse. Am Abend die endlosen Gespräche, die Wahrheit des Bacchus. Ich lese aus Unveröffentlichtem. Worte, die das Dunkel der Nacht erfüllen. Durchdringen. Sinnstifter des Moments. Spüre die Blicke Karins warm auf meinem Unterarm.
Bretagne, am Meer
Drunten, im Meer, sind auch wir mit unseren Jahren, die sich in unserer Haut lesen lassen wie Wellen im Ozean, Kindern gleich. Da braucht es keinen Anstoß von außen, um noch einmal herumzutollen, sich zu necken, das Wasser zur Waffe der Annäherung zu machen. Auch jetzt noch werden die Blüten der Frauenbrüste bei den ersten Berührungen mit dem kühlen Nass zu Knospen, stoßen die Weiber spitze Schreie aus wie junge Mädchen.
Der Sommer des Alters wird zu den Sommern von früher, denen der mittleren Jahre, den leichtesten von allen. Auch damals tollten wir herum wie junge Hunde, getragen von der Leichtigkeit des Lavendeldufts. Wir foppten uns und flachsten herum, rauften und rangelten, bis aus dem Spielerischen der Widerstand wich, die Körper geschmeidiger wurden und man die Übersicht verlor, wo der eigene Leib aufhörte und der andere begann. Die Besitzansprüche hatten wir beiseitegelegt, zumindest diese Sommer lang. Ineinander lösten wir uns auf. Das Ich im Du, im Wir, in der Erwartung einer anderen, einer besseren Welt. Es war der Ausgang für „Ein fliehendes Pferd“, meinen großen Erfolg.
Morgen Abreise. Käthe kann die Ausweise nicht finden. Angeblich wollte ich sie einstecken.
August, Linz
Eine Lesung in Linz zugesagt, ohne zu bedenken, wie es ist, wenn kein Luftzug die Schwüle anhebt. Wenn der Atem vor dem Munde stehen bleibt, weil er in der Hitze kein Entkommen findet. Da wird man zur Asche einer Glut, die man nie war.
August, Lissabon
Anruf meines Verlegers wegen des lang erwarteten dritten Meßmer-Buches. Will ihn nun doch schon im Frühjahr bringen. Die Nachfrage. Hatte zunächst erwogen, den neuen Band „Meßmers Augenblick“ oder „Meßmers Weile“ zu nennen, habe mich dann doch für das stärkere „Meßmers Momente“ entschieden.
Morgen Abend Lesung im Deutschen Haus, Aufzeichnung von 3Sat für das Fernsehen. Werde erste Motive und Gedanken aus „Das dreizehnte Kapitel“ lesen. Musste Einladung des verantwortlichen Redakteurs zum Mittagessen ablehnen. Habe mir stattdessen vom Hotel einen Hirsebrei bereiten lassen. Das ist der wohl größte Verlust, nicht mehr die Wahl des Essens zu haben. Die Macht über das Verdauen zu verlieren. Und stattdessen Verdauungsverlust lernen lernen.
Lissabon, Hotel
Warten aufs Taxi zum Flughafen. Ein letzter Galao. Serviert von einem verklemmten jungen Kerl mit schneidigen Zügen und hübschen Händen. An der Bar neben mir Frauen. Ihr Gespräch schnell und fließend wie Platzregen. S-Laute, so weich wie ein Tritt in Hundekot. Anruf von Käthe. Sie hat das Flugticket gefunden. Am Ende des Flures, auf dem Boden. 2.000 Kilometer entfernt.
August, Zugfahrt nach Stuttgart
Das Verfahren gegen Strauss-Kahn eingestellt. Ein Zimmermädchen wird immer ein Zimmermädchen bleiben und bringt keinen Podestbesteiger des Kapitals zu Fall. Das Geld, das sie höchstwahrscheinlich erhalten wird – der Schmierstoff der Macht. Die Vaseline der Mächtigen, die die Grenzen, die die Gesellschaft für Alle gleichermaßen errichtet hat, nicht mehr wahrnehmen. Und dennoch, Nafissatou Diallo: ein Gesicht, schwarz und stark dieser Niederlage zum Trotz. Ein schwarzes Gesicht. Ein stolzes Gesicht.
September, Bahnhof Innsbruck
Habe ein Ticket zweiter Klasse erworben. Mein Dingeverlust nötigt mich zu neuen Maßnahmen. Sollte ich etwas in der zweiten Klasse verlieren, wird es jemand zurückbringen. Wo der Kapitalist sein Portemonnaie trägt, trägt der ehrliche Mann sein Herz. Anstand und Ehre sind in der Arbeiterklasse noch ein Begriff.
Nußdorf
Angekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist