Die Wahrheit: Adler und Blindschleichen
Wenn das Faltenmeer zu wogen beginnt, werden manche weiblichen Wesen von einer Woge der Eitelkeit ergriffen und verzichten auf die schnöde Brille.
Könntest du bitte …“, beginne ich so sanft wie möglich, um Kurzschlussreaktionen zu vermeiden, als Matilde weniger sensibel, doch weitaus effektiver „Stopp, verdammt noch mal!“ aus dem Wagenfond kreischt. Sylvia tritt heftig auf die Bremse und kneift die Augen zusammen. Von rechts donnert ein Laster vorbei. Wie eine Schildkröte schiebt sie den Kopf vor und blinzelt in Richtung Vorfahrt-achten-Schild. „Ach so, deshalb“, murmelt sie dann und setzt die Fahrt fort, den Blick immer noch verengt, als habe sie ernste Magenprobleme.
„Hast du dir nicht neulich eine Brille angeschafft?“, fragt Matilde, als sie das Faltenmeer, das in Sylvias Augenwinkeln wogt, mit einem kritischen Blick vom Rücksitz aus mustert. Sylvia schnauft nur, während sie verbissen auf die Straße starrt. Eine Antwort gibt sie nicht. „Du warst doch ganz stolz auf das Ding, weil es topmodisch ist und du damit wieder siehst wie ein Adler“, hakt Matilde nach. „Wo ist das gute Stück nun also?“ Als Antwort folgt ein Augenrollen vom Fahrersitz und Schweigen.
Wir kennen uns schon lange. Im Lauf der Jahre haben wir gemeinsam Falten geworfen, gegenseitig unsere ersten falschen Zähne bewundert und scheuten uns irgendwann auch nicht mehr, beim immer komplizierter werdenden Entziffern von Speisekarten ungehemmt die Lesebrillen untereinander zu tauschen.
Nur Sylvia weigerte sich strikt anzuerkennen, dass ihr Blick inzwischen das Adlerhafte eingebüßt hat, und der Weichzeichner, mit dem sie ihr Sein seit einiger Zeit betrachtet, nicht auf eine positivere Lebenseinstellung zurückzuführen ist, sondern lediglich auf ihre wachsende Alterskurzsichtigkeit. Dann kam der Boom, der Brillen zum hippsten Accessoire überhaupt erklärte, und Sylvia landete beim Optiker.
„Dahinten rechts“, sage ich, um kurz darauf festzustellen, dass ein vages Dahinten für die Blindschleichenfront als Fahranweisung vielleicht doch nicht konkret genug war.
„Vorbei“, seufzt Matilde dann auch prompt. „Nehmen wir eben die nächste rechts“, schlägt Sylvia bemüht fröhlich vor, und ich widerspreche nicht, denn die Vorstellung, wie unkorrigierte vier Dioptrien am Steuer auf einer viel befahrenen Straße wenden, behagt mir gar nicht.
„Mein Selbstbewusstsein ist nun mal ein zartes Pflänzchen“, sagt Sylvia schließlich, nachdem sie beinahe über eine rote Ampel gedonnert ist. „Anfangs fand ich es wirklich toll, was ich mit Brille alles sehe. Aber dann habe ich festgestellt, dass mein Gemüsehändler, der mich immer so nett grüßt, gar nicht so gut aussieht, wie ich ohne Brille dachte“, bricht es aus ihr heraus. „Und dass die Bedienung im Café nicht nur mich anlächelt, sondern auch die Frauen am Nebentisch. Rechnet das mal hoch.“
Verzweifelt schaut sie uns an. „Versteht ihr nicht: Ich bin über vierzig – ich brauche keine Brille. Ich brauche Illusionen!“ Hinter uns hupt es, Sylvia gibt Gas, und ich hoffe nur, dass der Chirurg, der uns nach der nächsten roten Ampel zusammenflicken muss, das mit den Illusionen und der Brille für sich anders entschieden hat.
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