Die Wahrheit: Viel Lärm um mich

Aufzeichnungen einer Stadtbewohnerin: Ruhig ist was anderes, seitdem man in die neue, „ruhige“ Straße umgezogen ist...

Ich lebe gern in der Großstadt. Kurze Wege. Fahrrad. Kultur. Mitten im Leben. Weil es in meiner letzten Wohnung aber doch ein wenig laut war, bin ich voriges Jahr umgezogen. Nun wohne ich immer noch zentral, aber in einer sehr ruhigen Straße. Als ich einzog, gab es ein kleines stillgelegtes Gewerbegelände direkt gegenüber. Der Vermieter hatte aber leider vergessen zu erwähnen, dass sie dort 180 neue Wohnungen bauen wollen. Aber wir brauchen ja neue Wohnungen in den Städten. Seh ich ein. Sie sind auch sehr fleißig da auf der Großbaustelle vor meinem Schlafzimmerfenster. Geht meist um halb sieben Uhr morgens los. Aber kein Problem.

Ich hab ja noch ein Zimmer und Küche und Balkon nach hinten. Da schau ich auf ein Benediktinerinnen-Kloster. Mit Kühen im Garten. Sehr idyllisch. Vogelzwitschern, Kühe muhen, der Klostergärtner mäht täglich ab acht den Rasen. Ist aber meist mittags damit fertig. Da kommt mein Nachbar zur Linken immer nach Hause. Er ist Lehrer und renoviert gerade seine Wohnung. Das entspannt ihn. Dabei telefoniert er gerne mit seiner Schwester. Es ist laut in der Schule, weiß ich inzwischen, weil er immer ins Telefon brüllt, um die Hilti zu übertönen.

Der Lehrer macht nie allzu lange. Meist hört er gemeinsam mit denen auf der Baustelle so gegen fünf auf. Dann kommt meine Nachbarin auf der rechten Seite nach Haus. Sie übt seit einem halben Jahr Saxofon. Vor allem Tonleitern, danach spielt sie immer „Let it snow“. Das will sie Weihnachten im Kindergarten ihrer Nichte vorspielen. Meine Nachbarin übt auch nicht allzu lange. Vielleicht eine Stunde oder zwei. Wäre ich ihre Musiklehrerin, würde ich sagen: „Na, ein halbes Stündchen mehr könnte nicht schaden.“ Danach hört sie Salsamusik. Sie tanzt dreimal die Woche Salsa. Das kann man viel besser tanzen, wenn die Musik laut ist, sagt sie immer. Ich kann auch schon die ersten Schritte und die Tanzlehrerin meiner Nachbarin wäre sicher zufrieden mit mir.

Gegen sieben könnte für eine halbe Stunde ziemlich tote Hose sein, wenn da nicht mein Nachbar über mir auf dem Balkon auftauchen würde. Er ist Weinliebhaber. Und hat viele Weinfreunde. Sie unterhalten sich gern darüber. Ich weiß jetzt, dass der Morellino de Scansano fruchtig, saftig, lakritzig schmeckt. Und eine gute Länge hat. Gute Länge find ich prima. Scheint die Rothaarige eine Etage unter mir bei ihrem Freund leider zu vermissen, wie ich vorgestern aus dem Gespräch mit ihrer besten Freundin erfuhr. Ein intensives Gespräch, zu dem der Wein von oben ganz ausgezeichnet gepasst hätte: Damenledersattel, erdig-spargelig, Anklänge von Moos …

Ja, ich liebe das Stadtleben. Leider ist gegen zehn immer alles vorbei. Es wird immer seltsam einsam um mich herum. Nur der Uhu und ich. „Huhuuuu“, ruft er die ganze Nacht. Ist da jemand? Nein, lieber Uhu, wir sind alleine wach. Alle anderen sind schlafen gegangen. Aber jetzt wird es besser. Public Viewing zur WM. Auch nach zehn Uhr dürfen wir gucken. Manchmal sogar auch nach Mitternacht. Hach, das wird ein Fest.

Die Wahrheit auf taz.de

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.