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Die WahrheitDie beste aller möglichen Welten

Kolumne
von Joachim Schulz

Kettenreaktionen im städtischen Raum können zu ganz und gar nicht absehbarer Komik führen.

R aimunds Grinsen war so breit wie die Elbe beim letzten Jahrhunderthochwasser. Das bedeutete, ich hatte die Wette verloren und schuldete ihm nun eine Riesenportion schwarze Sepianudeln alla Nonna Emilia bei Antonio. „Unfassbar“, murmelte ich, während er die Straße überquerte und wieder neben mir Platz nahm.

Wir saßen vor dem Café am Goetheplatz und hatten interessiert zum Brunnen vor der Eulaliakirche hinübergeschaut. Der ist von einem schmiedeeisernen Gitter eingefasst, und es war in Mode gekommen, dass Verliebte kleine bunte Vorhängeschlösser an ihm anbrachten, in die sie ihre Namen hatten eingravieren lassen. Vermutlich glaubten sie, mit dem Schloss am Brunnengitter auch ihre Herzen für immer aneinanderzuketten. Weil die Herzensverkettung in Nullkommanichts zum Massenphänomen geworden war, sah man inzwischen das Gitter vor lauter Schlössern nicht mehr.

An diesem Morgen aber hatten wir beobachten können, dass ein Jüngling an dem Gitter hängen geblieben war. „Jede Wette“, hatte Raimund gesagt, „dass der mit dem Bügel des Schlosses versehentlich den eigenen Finger am Gitter festgeklemmt hat.“ „Quatsch“, hatte ich erwidert, „so blöd kann niemand sein!“ Keine fünf Minuten später, nachdem Raimund zum Brunnen hin- und wieder zurückgeschlendert war, hatte ich diese Wette verloren.

Unterdessen waren zwei Feuerwehrmänner mit einem Bolzenschneider an den Brunnen getreten, was allerdings den Burschen dazu veranlasste, noch mehr zu zappeln, da er wohl befürchtete, die beiden Brandschutzleute könnten statt des Schlosses den Finger zerknacken. Von diesem Spektakel nun war ein Herr, der mit einem Rollköfferchen vom Bahnhof kam, so fasziniert, dass er sein Köfferchen losließ und dieses, erst langsam, dann immer schneller, den abschüssigen Platz hinunterrollerte.

Es rumpelte auf die Straße, wo ein Radfahrer mit einem riesigen Kopfhörer auf den Ohren so lautstark „This is Not a Love Song“ von PiL mitsang, dass er von dem ungewöhnlichen Verkehrsteilnehmer vollkommen überrascht wurde. Er verriss den Lenker und rauschte ungebremst in die Wassermelonenpyramide, die Ümit gerade vor seinem Supermarkt aufgeschichtet hatte.

Der Koffer rollerte weiter, gefolgt von den Melonen und Ümit, was wiederum eine ängstliche ältere Dame dazu veranlasste: „Die Taliban greifen an!“ zu kreischen und einen so spitzen Schrei auszustoßen, dass ein Dobermann vor Schreck sein Herrchen umriss und in gestrecktem Galopp auf die Straße schoss, worauf ein Straßenbahnfahrer sich zu einer Vollbremsung genötigt sah und die Fahrgäste in der Bahn umfielen wie die Dominosteine.

„Junge, Junge“, murmelte ich. Und während wir zusahen, wie Rollkoffer, Melonen, Ümit, Dobermann und das immer noch an der Leine hängende Herrchen in die Adalbertstraße abbogen und neuen Abenteuern entgegensausten, seufzte Raimund: „Besuchen Sie Deppenhausen und erfahren Sie die ganze Wahrheit über die beste aller möglichen Welten!“

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