Die Wahrheit: Einmal Zentralfriedhof und zurück
In Sommernächten bieten nur die Friedhöfe Ruhe vor den Menschenmassen in der Stadt. Doch Besuche bei den Toten können merkwürdige Folgen haben.
N atürlich ist es ein Fehler, ranzugehen, wenn das Handy nachts um halb vier klingelt. Es war eine der wenigen tropischen Nächte dieses Sommers, und ich war den ganzen Abend mit Raimund rumgezogen auf der Suche nach einem ruhigen Platz im Stadtpark oder am Fluss, doch überall hockten junge Menschen, die Würstchen auf Einweggrills verkohlen ließen und den wunderbaren Abend in Grund und Boden krakeelten. Am Ende landeten wir auf dem Zentralfriedhof, legten uns auf die Wiese am großen Gräberfeld, starrten hinaus ins Weltall, und Raimund sagte: „Ich hätte nie gedacht, dass der schönste Platz der Stadt zwischen den Toten sein könnte.“
Jetzt aber klingelte das Handy. Ich war auf dem Heimweg, hatte mich von Raimund vor fünf Minuten auf dem Goetheplatz getrennt. Nun rief er schon wieder an. „Du musst mir helfen“, flüsterte er: „Es ist jemand in meiner Wohnung!“ – „Ein Einbrecher?“, flüsterte ich zurück. „Ja“, sagte er: „Die Wohnungstür stand offen, und in meinem Schlafzimmer höre ich jemanden schnarchen.“ – „Dann ruf nicht mich an, sondern die Polizei!“ – „Aber was, wenn es gar kein Einbrecher ist?“ – „Ich denke, jemand schnarcht!“ – „Sicher. Aber hast du jemals von einem Einbrecher gehört, der irgendwo einsteigt, um sich dort schlafen zu legen?“ – „Phh…“, machte ich, denn ich hatte schon so ziemlich alles gehört.
„Ich meine“, fuhr Raimund fort, „vielleicht haben wir jemand mit unserem Palaver über den schönsten Platz der Stadt aus der ewigen Ruhe aufgeschreckt. Jemand, der schließlich aus der Grube geklettert ist, um sich woanders einen stilleren Schlafplatz zu suchen. Zum Beispiel bei einem von diesen Plapperhanseln zu Hause.“ – „Du meinst, dass ein Geist in deinem Bett liegt? Raimund, du spinnst doch!“ – „Kann sein“, murmelte er, „kann aber auch nicht sein. Sicher ist, dass ich in naher Zukunft vor Angst sterben werde und dieser Geist mich gleich auf den Friedhof mitnehmen kann, wenn er aufwacht. Also, wenn ich dir unsere Freundschaft irgendetwas bedeutet, kommst du jetzt her!“
Er legte auf. Ich rief zurück, doch er hatte das Telefon abgestellt. War es denn ein Wunder, dass einer, dessen bester Freund Raimund war, nie daran gedacht hatte, Kinder in die Welt zu setzen? Ich seufzte und machte mich auf den Weg zu ihm.
Das Haus war still und dunkel. Ich stieg zu seiner Wohnung hinauf. Die Tür war verschlossen, doch der Schlüssel lag wie immer unter dem Blumentopf mit dem vertrockneten Farn. „Raimund!“ Ich schlich durch den Flur, doch er antwortete nicht. Auch im Schlafzimmer schnarchte niemand. Da aber machte ein Martinshorn der Stille der Sommernacht ein Ende: Ein Polizeiwagen stoppte unten, durchs Treppenhaus hallten Kommandos und Schritte, und kurz darauf führte man Raimund in Handschellen aus dem Haus, während Herr Prüser, der eine Etage tiefer wohnte, im Schlafanzug auf dem Balkon stand und schimpfte, er habe ja schon immer geahnt, dass dieser Taugenichts eines Tages bei ihm einsteigen werde, um ihm sein sauer Erspartes zu rauben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!