Die Wahrheit: Juwel in der Truhe
Das sagenhafte Goldene Vlies der Antike ist überraschend wieder aufgetaucht – in der ostwestfälischen Gemeinde Bramsche.
Dichter haben es besungen, Maler haben es gemalt und Forscher haben es in aller Welt gesucht – das Goldene Vlies. Jetzt ist es wieder aufgetaucht, bei einer Haushaltsauflösung in der westfälischen Gemeinde Bramsche im Landkreis Osnabrück. Doch wie ist es dort hingeraten?
Der Sage nach hat der griechische Gott Hermes aus nicht mehr genau ermittelbaren Gründen eines Tages einem flugtauglichen goldenen Widder namens Chrysomeles befohlen, die Kinder des böotischen Königs Athamos und seiner Frau Nephele nach Asien auszufliegen. Der Widder wurde nach getaner Tat geopfert, und sein Fell, das besagte Goldene Vlies, soll im heiligen Hain des Kriegsgottes Ares aufgehängt und von einem mächtigen, niemals schlafenden Drachen bewacht worden sein, bis es von den sogenannten Argonauten geraubt wurde. Danach verlor sich seine Spur.
Anhand von Gewebeproben haben Archäologen aus Cambridge und Experten des Max-Planck-Instituts für molekulare Biomedizin in Münster übereinstimmend festgestellt, dass es sich bei dem in Bramsche lokalisierten Objekt tatsächlich um das Goldene Vlies handelt.
„Anfangs habe ich das Ganze für einen Scherz gehalten“, sagt Dr. Vladimir Abramovich (39), ein renommierter Althistoriker, der den Naturwissenschaftlern aus Cambridge und Münster beratend zur Seite steht. „Aber der Augenschein hat mich sofort eines Besseren belehrt, und die Analysen der Kollegen lassen keinen Zweifel zu: Wir haben das Goldene Vlies entdeckt.“
Das Goldene Vlies. Mythos und Wirklichkeit. Tuchmacher-Museum Bramsche, 1. 2.-16. 5. 2015. Eintritt: 5 Euro. Öffnungszeiten: Di. bis So. 10 bis 17 Uhr. Katalog, 420 Seiten, 22,90 Euro (mit Essays von Peter Sloterbein, Durs Gründijk, Bazon Strauß und Botho Brock)
Nach Auskunft des Pressesprechers der Stadt Bramsche ist das Vlies im Nachlass der ledigen und kinderlosen, im Alter von 61 Jahren an Herzversagen verschiedenen Aldi-Kassiererin Gerlinde Börnsen aufgefunden worden. Da es keine Hinterbliebenen gibt, die Anspruch auf das Vlies erheben könnten, ist Vater Staat in diesem Fall der „lachende Dritte“. Von Kunstsachverständigen wird der Marktwert des Vlieses auf zwei- bis dreihundert Millionen Euro beziffert. Einem Gutachten des Bundesjustizministeriums zufolge fällt es jedoch unter das Kulturgutschutzgesetz, sodass es nicht ohne Weiteres verscherbelt werden kann, auch wenn dem Fiskus damit sicherlich geholfen wäre.
Inzwischen hat sich das griechische Außenministerium in den Fall eingeschaltet und eine Restitution des schätzungsweise 2.500 Jahre alten Vlieses an die Hellenen gefordert. Ob es sich bei dem Vlies nun allerdings um Raubkunst handelt, ist nicht erwiesen. Nachforschungen im Melderegister haben ergeben, dass Gertrude Börnsens Vorfahren allesamt sehr kleine Leute waren – Kohlenträger, Hundefänger, Schornsteinfeger und dergleichen –, und dass keiner von ihnen jemals im Ausland gewesen ist. Im Ersten und im Zweiten Weltkrieg waren sie wegen geistiger und körperlicher Defizite ausnahmslos ausgemustert worden. Hermann Friedrich Gneitzke, ein Ururgroßonkel aus der mütterlichen Stammlinie, hatte 1870 zwar am Feldzug gegen Frankreich teilgenommen, war aber bereits bei der Eroberung der Stadt Spichern gefallen, und ein anderer Vorfahre, Carl Eduard Conrad Börnsen (geboren 1592 in Detmold), wurde 1617 als vermisst gemeldet, nachdem er mit einer ungarischen Marketenderin durchgebrannt war.
„Anhaltspunkte für eine illegale Inbesitzbringung des Vlieses durch die Erblasserin oder ihre Ahnen sind aus dem amtlichen Datenmaterial nicht abzuleiten“, heißt es in einer Expertise, die das niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur bei der Unesco in Auftrag gegeben hat. Aber wie ist das Goldene Vlies ausgerechnet nach Bramsche und in Gerlinde Börnsens Wäschetruhe gelangt?
Stefan Ditzing (45), ein langjähriger Wohnungsetagennachbar der Verstorbenen, neigt der Ansicht zu, dass es sich um ein Schnäppchen vom Flohmarkt handelt: „Die Frau Börnsen ist am Wochenende öfter mal nach Hannover gefahren, und dann hat sie so Flohmarktsachen mitgebracht, also irgendwelche Untersetzer oder Obstschalen, sag ich mal, und manchmal eben auch ’n alten Bettvorleger. Fragen Sie da doch mal nach!“
Und tatsächlich: Auf dem hannoverschen Flohmarkt stoßen wir auf einen Stand, an dem es für wenig Geld antike Münzen, Poseidons Dreizack und mykenische Linear-B-Tafeln zu kaufen gibt. Leider schweigt der Händler sich über die Herkunft seiner Waren aus, und als wir eine Woche später wiederkehren, ist er wie vom Erdboden verschluckt.
Des Rätsels Lösung wird noch auf sich warten lassen. Freuen können sich aber alle Freundinnen und Freunde der griechischen Mythologie auf den 1. Februar 2015, denn dann soll die große Goldenes-Vlies-Ausstellung im Tuchmacher-Museum zu Bramsche eröffnet werden. Don’t you dare miss it!
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