Die Wahrheit: Tollkühner Geisterfahrer
Die Maut kommt. Aber die Maut kann auch umfahren werden. Unterwegs auf einer deutschen Autobahn mit einem Meister im Schwarzfahren.
Blicken wir in die nahe Zukunft des deutschen Individualverkehrs: Wir schreiben den November des Jahres 2015. Endlich hat Deutschland die Maut. Doch anders als ursprünglich geplant, gibt es keine Vignette nach österreichischem Vorbild, sondern die Maut wird wie bei den Lkws streckenbezogen erhoben – je länger die Strecke, desto teurer die Fahrt. Was gerecht klingt, hat unverhoffte Konsequenzen für die deutsche Staatskasse. Denn obwohl die Europäische Union durchgesetzt hat, dass alle Autofahrer zahlen müssen, sind die Einnahmen wesentlich geringer als gedacht.
Begeben wir uns an die Front: Als Edmund Jankowitsch nach zwanzigminütiger Geisterfahrt die Autobahn in einem waghalsigen Manöver über die Anschlussstelle Traunstein wieder verlassen hat, muss er erst einmal tief durchatmen. „Herrgottzack! Das ist schon Stress pur, wenn dir da die Audis und BMWs mit 200 Stundenkilometern entgegenkommen“, gibt der sympathische Oberbayer zu Protokoll. „Ja servus! Da musst du ganz schön auf Zack sein.“
Seine tollkühne Fahrt in Gegenrichtung war aber keineswegs ein einmaliger „Ausrutscher“, wie der 36-jährige Vater von Drillingen versichert. Auf dem morgendlichen Weg zu seinem Arbeitsplatz ist er nämlich jeden Tag, den der Herrgott werden lässt, als Geisterfahrer unterwegs. Grund für die halsbrecherische Gestaltung seines Pendlerdaseins ist die seit Juli 2015 eingeführte Mautpflicht auf deutschen Autobahnen. „Und von diesem Dobrindt abkassieren lass ich mich schon mal gar nicht!“
Wie sich nämlich zeigt, hat die elektronische Erfassung der Fahrzeuge und die automatische Abbuchung der Maut von den Konten der Autofahrer durchaus ihre Macken. In unzähligen Testfahrten fanden Edmund Jankowitsch und seine Mitstreiter vom „Bund der Mautgegner“ heraus, dass die mangelhaft programmierte Software der Mauterhebungsanlagen sich zu ihren Gunsten nutzen ließe – aber eben nur, wenn man als Falschfahrer unterwegs ist. Fährt man nämlich in der entgegengesetzten Fahrtrichtung unter den Maut-Kontrollbrücken durch, reagiert das System irritiert. Statt einer Abbuchung erhält der Geisterfahrer die Gebühr für die zurückgelegte Strecke auf sein Konto gutgeschrieben: je länger die Strecke, desto lukrativer die Fahrt.
Die Kunde vom unverhofften Geldsegen aus Berlin hat sich schnell herumgesprochen. Immer mehr Automobilisten entschließen sich zur einträglichen Geisterfahrt auf unseren Autobahnen. Doch diese Sparfüchse leben gefährlich, die Konto-Gutschriften sind hart erkämpft. Ghostrider Jens Kabbelsen aus Unna berichtet über haarsträubende Fast-Zusammenstöße und waghalsige Ausweichmanöver, die er bislang aber ohne Schaden an Mensch oder Maschine überstanden hat. Auf diese Weise kann er sein bescheidenes Gehalt als Altenpflegehelfer nicht unerheblich aufbessern.
„Wenn man so in der falschen Richtung unter der Mautbrücke durchfährt, dann ist das schon ein erhebendes Gefühl“, schwärmt der umtriebige Ostwestfale. „Aber man muss natürlich wie ein Schießhund aufpassen, damit die Fahrt nicht vorzeitig zu Ende ist.“
Für seine Renditetouren nutzt der Mautmeister deshalb vorzugsweise die verkehrsarmen Stunden zwischen drei und fünf Uhr morgens. „Da kannst du volle Pulle durchbrettern, und die Taler purzeln nur so in deinen Geldbeutel.“
Das Beispiel der tollkühnen Männer in ihren falschfahrenden Kisten macht mittlerweile Schule im ganzen Land – schon wurden die ersten Geister-Laster auf Bundesautobahnen gesichtet. Wobei die Brummis im Duell mit den Pkws selbstverständlich eindeutig die besseren Karten haben.
„Wenn ich mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern entgegenkomme, verziehen sich auch die Dauerüberholer von Porsche & Co. ganz schnell auf die rechte Spur“, berichtet Ghost-Trucker Silvio Fratzscher aus Sonneberg nicht ohne Stolz. Und warum geht er das immense Risiko ein, obwohl doch sein Arbeitgeber letztlich die Maut aufbringen müsste? „Ich hab da so einen Deal mit meinem Chef, dass ich die Gutschriften behalten darf. So bessere ich meine Haushaltskasse auf.“ RÜDIGER KIND
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