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Die WahrheitBewerten Sie jetzt ihre Rotze!

Kolumne
von Bernd Gieseking

Selbst wenn man nie Lehrer werden wollte: In einer Welt, die ständig alles bewertet, wird man ständig genötigt, Zensuren zu geben.

N eulich hatte ich ein Taxi bestellt. Nach wenigen Minuten blinkte eine SMS: „Bitte bewerten Sie Ihre Fahrt mit der Taxi Ord. Nr. 235, indem Sie auf diesen Link klicken.“ Ich war noch nicht mal zu Hause, als mich diese Aufforderung erreichte. Ich will das nicht! Wenn ich hätte Zensuren geben wollen, wäre ich Lehrer geworden. Und ich war kurz davor!

Eines der schönsten Dinge in meinem Leben war im Studium ein Seminar bei F. K. Waechter. Der große Zeichner und Humorist brachte uns seine Filme mit. Ich hatte einen Filmvorführschein aus meiner Zivildienstzeit und durfte die legendären Werke, die gemeinsam mit Bernd Eilert, Arend Agthe und Robert Gernhardt entstanden und schon auf dem Kurzfilmfestival in Oberhausen gelaufen waren, auf einem alten Projektor zeigen. Ich durfte dieses Gold berühren. Das war unser Schatz im Silbersee. Das Vermächtnis der Inka.

Als Kunststudenten in Kassel wehrten wir uns Anfang der achtziger Jahre gegen die Professoren der Naturwissenschaften und andere, die aus unserer schönen Reformhochschule eine echte Universität machen wollten. Also hatten wir Waechter eingeladen, unseren Gott. Er nahm uns ernst und mit auf die Reise zu Bernstein, Knorr, Henscheid und vielen anderen. Das war es dann mit dem Berufswunsch „Lehrer“.

Waechter unterschrieb uns stapelweise „Scheine“, die „Studienleistungsnachweise“, mit denen wir dann unsere Zulassung zur Prüfung bekamen. Jeder, dem in den folgenden Jahren ein Schein fehlte, konnte sich bei uns der durch F. K. Waechters Signatur zum Kunstwerk gewordenen Papiere bedienen. Und wer von uns später als „Lehrbeauftragter“ berufen wurde, der hielt es genauso. Wenn wir Karikatur-, Schreib- oder Komik-Seminare gaben, sagten wir in den fast immer überfüllten Seminarräumen als Erstes: „Wer nur den Schein will, den unterschreiben wir jetzt. Wer arbeiten will, kann gern bleiben!“

Eine Welt aus Bewertungen

Dann änderten sich die Studienanforderungen, und wir mussten Zensuren geben. Dabei war doch einer der Gewinne durch das Zusammensitzen mit Waechter, dass wir wussten: Wir wollten die Gesellschaft lachen machen, ihr aber keine Zensuren verpassen. Das größte Privileg meines Lebens ist, niemanden entlassen zu müssen, keinen be- und eben auch nicht verurteilen zu müssen. Niemanden muss ich mit einer Fünf niedermachen, ich muss keinen durchfallen lassen. Ich kann niemandes Weg verbauen. Großartig. Das zwölfte Gebot lautet: „Du sollst nicht urteilen über andere!“

Aber rund um mich herum entstand in den letzten Jahren eine Welt aus Bewertungen. Egal ob mein Auto in der Reparatur war oder ob ich auf Ebay eingekauft habe, permanent soll ich alles bewerten und beurteilen. „Sie haben ins Taschentuch gerotzt. Bitte bewerten Sie das Taschentuch mit zwischen einem und fünf Sternen!“

Der Taxifahrer neulich war übrigens super und ganz anders als das Arschloch, das sich trotz Wetter weigerte, das Fenster zu schließen. Darum habe ich dem Taxi mit der „Ord. Nr. 235“ fünf Sterne gegeben.

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