Die Wahrheit: ¡Weg mit Wegebier!
In Berlin werden jetzt Pantomimen als Ordnungshüter gegen Partytouristen eingesetzt. Die Weißgesichter greifen dabei zu ungewöhnlichen Mitteln.
Schreie hallen durch die angesagte Ausgehmeile rund um die Schlesische Straße in Berlin-Kreuzberg. „Stehenbleiben! Stoij! Stop! Arrêtez! Alto! No se mueva!“
Wie vom Donner gerührt verharren die jungen Touristen, die soeben bei Rot die Straße überqueren wollten. Sie tuscheln eingeschüchtert miteinander und klammern sich, wie um seelischen Halt zu finden, an ihren Flaschen fest.
„Ruhe“, brüllt derselbe Pantomime, der sie eben noch zum Stehenbleiben aufgefordert hat. „Verdammt noch mal! Assholes! Puta madre! Elkköttel!“ Für seine Statur erstaunlich behände eilt der zwei Meter große bullige Mimiker herbei, entreißt den Störenfrieden ihre Wegebiere und entsorgt sie unter lautem Gluckern. Die Performance vermittelt einem internationalen Publikum spielerisch Grenzen und Regeln, ganz ohne große Worte zu benötigen.
Das Konzept, Ergebnis einer Studie des zuständigen Bezirksamts, geht tatsächlich auf. Denn nach guten Erfahrungen unter anderem in Paris und Barcelona lässt man nun auch hier im Rahmen eines Pilotprojekts Pantomimekünstler und Mediatoren „in Interaktion mit lärmenden Touristen treten“ (taz vom 13. 3. 2015), um so die Auswüchse des Partytourismus einzudämmen.
Benedikt Prösser (37) ist besagter Zweimetermann und einer der straßentheatererfahrenen Schauspieler, die hierfür engagiert wurden. „Die Kunst hat mir das Leben gerettet“, gibt der unehrenhaft entlassene Fremdenlegionär aus Hameln, der als Dreijähriger den grauenhaften Ritualmord an seiner gesamten Familie miterleben musste, unumwunden zu. „Ich bin dem Bezirksamt Kreuzberg-Friedrichshain unendlich dankbar. Das Projekt ist mir wie auf den Leib geschnitten.“
Selbstverständlich haben wir Fragen – genauer: zwei: „Bedeutet Pantomime nicht eigentlich, dass sie lautlos ist und Inhalte allein über Mimik und Gestik transportiert? Warum schreien Sie dann so?“
„Langweilig?“
Prösser blickt indigniert wie ein Mathematiklehrer, der feststellt, dass es dem neuen Leistungskurs am Einmaleins gebricht. „Damit wir bemerkt werden. Ist doch logisch. Ein stummer Pantomime fällt doch in dem Trubel überhaupt nicht auf. Da könnten Sie genauso gut ein Schild oder eine Vogelscheuche hinstellen“, winkt er ab.
„Sie führen außerdem leichte Bewaffnung mit sich, von der Sie auch regen Gebrauch machen. Pantomime habe ich irgendwie anders in Erinnerung. Friedlich und auch sterbenslangweilig, wie ich es leider schon als Kind empfunden habe.“
„Langweilig?“ Der Verwandlungskünstler hebt kurz seinen Schlagstock. Dann lässt er ihn doch wieder sinken. Kunst verändere sich nun mal und suche neue Ausdrucksformen „wie der naturbelassene Strom, der sich mäandernd frische Bette gräbt.“ Kunst, die starr in ihrer Form verharre, sei es hingegen nicht wert, Kunst genannt zu werden. Er ergänzt: „Mit Waffen können wir viel nachhaltiger agieren. Ohne die würde das Publikum uns bloß für lächerliche Clowns halten. Dazu die Selbstschutzkomponente: So ein betrunkener australischer Tourist kann auf eine Belehrungspantomime ganz schön aggressiv reagieren. Wenn der dann wie ein verwundeter Bär auf den Künstler zustürmt, deeskaliert dieser die Situation am besten mit dem Einsatz von Stock und Pfefferspray. O, gucken Sie mal da …“
Er zeigt auf die andere Straßenseite. Vor einem Spätverkauf werden drei junge Schweden von einer Pantomimenpatrouille umzingelt. Wie wir deren Gebrüll entnehmen, hat einer der Touristen zuvor in einen Hauseingang gepinkelt. Nun funkeln böse Augen drohend aus weißgeschminkten Gesichtern, vollführen geweißte Hände exakte Gesten des Halsdurchschneidens, Aufknüpfens und der Kastration.
Die Zeichensprache funktioniert weltweit, genau zu diesem Zweck hat das Bezirksamt seine Künstler schließlich auf die Straße geschickt. Für das Aufklärungsgespräch drängen sie die jungen Männer in eine dunkle Grünanlage. Die Mediatoren, zu erkennen an den Handschellen und Elektroschockern am Gürtel, unterstützen sie dabei. Noch ein paar Minuten lang hört man laute Schreie, dann tritt endlich die vom Anwohner ersehnte Stille ein.
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