Damals bei uns daheim: Früsche Luft

Geht in den Wald, das ist gesund. Dass dort alle Kette rauchten und Kühlschränke entsorgten? Egal. Eine Serie über die Kindheit in der BRD.

Die Buchse saß auch im Urlaub immer perfekt Bild: privat

„Macht schön euren Anorak zu“, mahnte Stiefmutter, ehe sie die Stiefgeschwister und mich aus der warmen Stube hinaus in den eiskalt strömenden Regen schickte. Die BRD der späten Wirtschaftswunderjahre war kein lebensfreundlicher Ort. Bär, Luchs und Elch waren noch nicht wieder angesiedelt, stattdessen huschten Ratte, Troll und TBC-Bazille zwischen Supermärkten und GI-Kasernen herum. Dahinter begann der „Wald“, ein verminter und entfaunter Forst aus öden Krüppelfichten, in dem wir „draußen spielen“ sollten. Wie jeden Tag.

Wir mussten mindestens zwölf Stunden im Wald bleiben. Meist hopsten wir so lange auf der Stelle, bis wir vor Erschöpfung zusammenbrachen. Wer zuletzt übrig blieb, hatte gewonnen und war Uwe Seeler. Oder wir droschen mit Stöcken aufeinander ein, bis der Schmerz das Kältegefühl deckelte. Immerhin war es im Durchschnitt vier Grad kälter als heute.

„Im Wald ist so schön früsche Luft“, kam stets dieselbe Begründung. „Früsche Luft“ war angeblich gesund und zur „Abhärtung“. „Ein Junge muss sich abhärten“, pflegte Stiefvater zu sagen, wenn er mich morgens aus dem Bett zog und durchs Fenster nach draußen in den Schnee kickte. War ja kurz nach dem Krieg. Konnte ja jederzeit wieder Krieg kommen. Da musste man „abgehärtet“ sein. Damit man nicht wieder verlor. Waren ja auch mal die andern dran. Und wer wusste denn, ob der Führer tot war? So dachte man hinter den weißen Gardinen der hastig hochgezogenen Hoch- und Reihenhäuser, Legekolonien einer wachsenden Konsumviehherde für Karstadt, Volkswagen und Neckermann.

Von „früscher Luft“ konnte im Wald übrigens keine Rede sein. Alle rauchten Kette, während sie kaputte Kühlschränke entsorgten oder einfach irgendwohin kackten, was schon als Naturverbundenheit galt. Der Staat experimentierte mit Chemiewaffen und Atomenergie – na, wo? – richtig, natürlich im Wald. War doch eh allen alles egal im Wald. Die Grünen gab es schließlich noch nicht.

Was heute keiner mehr weiß und auch nicht wissen möchte: Die ersten Ur-Grünen wurden ja allesamt ermordet. Claus Becker. Jutta Hohenstein. Franzfred Kirchner. „Autounfall“, „Stromschlag“, „Selbstmord“. So sollte es zumindest nach außen hin aussehen. CDU, SPD und FDP hatten die Nottötungen gemeinsam im Bundestag beschlossen. Es gab doch schon genug Parteien, drei, genauso viel wie Fernsehprogramme und überhaupt wie aller guten Dinge – da brauchte man wirklich nicht noch eine. Und die Leute waren einverstanden. Waren ja schließlich Terroristen, diese Grünen.

So sah man das. Umwelt: So ein Quatsch! Natur: Wozu hatte die Menschheit die denn tausend Jahre lang bekämpft? Man muss die Leute auch verstehen, das waren doch ganz andere Zeiten. Heute sieht man das ja viel entspannter. Es gibt sogar Ausländer mit Bart im Bundestag, Homosexuelle, Frauen und sonstige Andersdenkende. Manchmal muss ich schmunzeln, wenn ich sehe, was für ein buntes Völkchen aus unserer grauen Republik geworden ist.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.