Die Wahrheit: Wildes Schwenkfutter
Zur Regulierung des Wildtierbestandes werden heute nonletale Methoden angewandt. Hilfreich ist dabei die Mediengeilheit der Tiere.
„Die Viecher wollen um jeden Preis vor die Kamera“, brummt Revierförster Heiner Bristau und gibt einer Herde Wisente für ihre wild gesprungene Mazurka eine eher mittelmäßige Vierkommafünf, obwohl sie von den urwüchsigen Hornträgern erstaunlich graziös ausgeführt wurde und Hebefiguren gerade für Paarhufer eine riesige Herausforderung darstellen.
Doch Bristau lässt sich nicht umstimmen. Ihm habe die Sinnlichkeit gefehlt und ein wenig die Verletzlichkeit, wendet der staatlich geprüfte Forstwirtschaftsmeister ein. „Da war schon viel Schönes bei, aber eben nicht auf Nationalparkniveau. Es tut mir leid, aber eure Reise ist hier zu Ende.“
Die Rindviecher muhen unwillig, drehen dann aber widerstandslos um. Kurz darauf betritt ein junger Luchs die Lichtung, baut sich selbstbewusst vor der Wildkamera auf und markiert erst einmal demonstrativ sein Revier. „Danke, das reicht schon“, unterbricht der Revierförster von seinem Hochsitz aus.
„Luchse gehen immer“, verrät Bristau im Vertrauen und händigt dem beglückten Wildfang seinen Passierschein aus. „Jeder mag die pinselohrigen Gesellen als Fotomotiv, auch wenn sie furchtbare Angeber sind und überhaupt nicht singen können. Die wissen halt auch, wie selten sie sind.“
Vor dem Linsenauge der Fotofalle in Bristaus Revier in der Niederlausitz spielen sich allnächtlich ähnliche Szenen ab. „Ständig kommen Wölfe, Otter, Biber, Luchse und Seeadler aus ihren Siedlungsgebieten jenseits der Grenze zu uns herübergewandert“, erklärt der Förster. „Immer mehr seltene Tierarten wollen sich in unseren heimischen Wäldern ansiedeln. Da muss man eine gewisse Auswahl treffen.“
Seine Flinte hat Revierförster Heiner Bristau jedoch gegen Megafon und Bewertungsbögen eingetauscht, denn zur Regulierung des Wildtierbestandes werden längst zeitgemäße nonletale Methoden angewandt, zumal vom Aussterben bedrohte Arten nur noch abgeschossen werden dürfen, wenn in der Nähe Landtagswahlkampf ist oder die Boulevardpresse eine dramatische Gefährdungslage wittert. „Da sind die gesetzlichen Vorschriften heute glücklicherweise sehr streng“, freut sich Bristau. „Bevor nicht irgendwo das Wort ’Problembär‘ gefallen ist, dürfen wir gar nichts unternehmen.“
Entwickelt wurde das Auswahlverfahren zusammen mit dem preisgekrönten Tierfilmer Hans-Georg Asenmann, der zuletzt die erbarmungswürdigen Zustände auf chinesischen Katzenfarmen aufdeckte. „Der Verbraucher muss wissen, unter welch schrecklichen Bedingungen die vermeintlich niedlichen Katzenvideos entstehen“, sagt Asenmann, dessen Name wie kein zweiter für artgerechten Tierfilm steht.
Dabei steht die Branche unter immensem Druck. Bis zu acht Stunden Tierdokumentation versendet ein Nischensender wie N24 an hitlerfreien Tagen, um ein Vollprogramm zu simulieren und in den Öffentlich-Rechtlichen wird der Tierfilm ohnehin längst als einzige tragende Säule des informationellen Grundversorgungsauftrags verstanden.
„Mittlerweile wurde jeder Streichelzoo und jede Hundeschule abgefilmt. Da kam mir die Idee, einfach Kameras an den Vernetzungspunkten der Biotope aufzustellen und das Material zeitgemäß aufzubereiten.“ Aber nur nur ein Profi wie Asenmann konnte den großen Zuspruch der Fauna vorhersehen.
„Wir nutzen die natürliche Profilneurose von Wildtieren“, erklärt der Tierfilmer, der für seinen Film über krokodiljagende Kolibris im südlichen Amazonasbecken mit dem Darwin-Award ausgezeichnet wurde. „Auffallen um jeden Preis gilt im Tierreich schließlich als Fortpflanzungsvorteil. Deswegen gibt es nichts, was dieses Kroppzeug nicht anstellen würde, um ins Fernsehen zu kommen. Das macht sie zu idealen Kandidaten für Castingshows.“
Nonchalant lüftet der Experte damit ein lang gehütetes Berufsgeheimnis seiner Branche, die noch immer hartnäckig die Legende vom geduldigen Tierfilmer verbreitet, der für seine Bilder monatelang unter widrigsten Bedingungen ausharrt.
„Das ist Quatsch“, stellt Asenmann resolut klar. „Sobald irgendwo eine Kamera aufgebaut ist, drehen die Viecher komplett durch. Sogar Grzimek wollte eigentlich bloß stimmungsvolle Landschaftsaufnahmen von der Serengeti machen, aber ihm sind jedes Mal ein paar hunderttausend Gnus ins Bild gerannt.“
Mittlerweile hat sich ein Rudel Wölfe vor dem Kameraauge eingefunden und intoniert gekonnt die Gesangspartien aus der berühmten Wolfsschlucht-Szene des Freischütz. Das markdurchdringende Heulen spiegelt den schwarzromantischen Charakter der Weber-Oper kongenial wider, doch der Fachmann winkt gelangweilt ab. „Letzte Woche waren die noch als Barber-Shop-Quartett hier. Dabei sind das bloß ein paar verwilderte Straßenköter, die einen auf Wolf machen, um bei uns Sozialleistungen abzugreifen“, brummt er verärgert und greift doch noch zur Flinte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!