Die Wahl in Sachsen-Anhalt: Der Bauer hat gewonnen
Anhalt war vor vier Jahren der Wahlkreis mit der niedrigsten Wahlbeteiligung. Diesmal jagt ein CDU-Mann der Linkspartei das Direktmandat ab.
DEETZ/ BITTERFELD taz | Am Nachmittag sitzt Kees de Vries in seinem mächtigen Polstersessel und hat wie ein Häuptling Familie und Freunde um sich geschart. Der Heiland hinter ihm auf einem Sims hebt segnend die Hand und verleiht der Versammlung etwas Andächtiges. Von Zeit zu Zeit stößt der Landwirt Zigarrenqualm an die Decke.
Ein Reporter des Allgemeen Dagblad ist aus Rotterdam nach Deetz geeilt, wo der gebürtige Holländer seit 21 Jahren lebt. Denn vermutlich wird der Chronik des 700-Einwohner-Dorfes heute ein neues Kapitel hinzugefügt, und das liegt am Neubürger Kees de Vries.
„Ich bin hierhergekommen, um Kühe zu melken“, erinnert de Vries an den Anfang vor über zwanzig Jahren hier im Osten von Sachsen-Anhalt. Es klingt wie eine Familiensaga. Inzwischen hat de Vries mit seinem Clan tiefe Wurzeln geschlagen, 1999 trat er der CDU bei, 2005 nahm er die deutsche Staatsbürgerschaft an, er ist im Vorstand des regionalen Bauernverbandes, hat für den Landtag kandidiert, sitzt im Kreistag, im Kreiselternrat, in Fördervereinen, im Kirchenvorstand, hat unzählige Hände geschüttelt, ganze Busladungen über den Hof geführt, hat sich in Filmen auf Youtube präsentiert und bei all dem sicher eine Menge Geld ausgegeben.
Und jetzt steht er vor dem Einzug in den Bundestag – von Westfriesland über Deetz nach Berlin. Wenn das keine Karriere ist für den Landstrich nördlich von Dessau, in dem sich Menschen rar machen, Wölfe hingegen vermehren. Das Melken, räumt de Vries ein, ist selten geworden. Dafür hat er seine sechs Kinder und zwanzig Angestellte.
Was auf die Beine gestellt
Vor vier Jahren verpasste Kees de Vries knapp den Einzug in den Bundestag. Mit 365 Stimmen Vorsprung holte Jan Korte von der Linkspartei das Direktmandat für den Wahlkreis Anhalt. Die Linkspartei hätte 2009 einen Besenstiel nominieren können, spöttelt de Vries jetzt, so seien ihnen die Stimmen in Sachsen-Anhalt zugeflogen. Fünf von neun Direktmandaten hatte sie erobert.
Dieses Jahr soll es anders kommen. „Wenn es jetzt nicht klappt, wäre ich echt enttäuscht.“ Noch einen Schluck Kaffee, noch ein Blick aus dem Fenster zu den Wiesen, dem Maisfeld, zum Waldrand, dann richtet sich de Vries auf, ein Hüne mit stattlichem Bauch, und geht ins Nebenzimmer, wo sein Anzug und der dezent orangefarben gestreifte Schlips bereitliegen.
Kurze Zeit später rollt ein Konvoi von der alten LPG-Anlage ins Dorf – Kees de Vries, seine Frau, die wahlberechtigten Kinder, der Schwiegersohn, der holländische Reporter samt Fotograf. Für den Patriarchen und sein Gefolge wird das Wahllokal in der alten Dorfschule schnell zu eng. Kees de Vries posiert für einen Augenblick etwas unbeholfen. Als das Wahllokal wieder leer ist, gibt der Bürgermeister zu verstehen, dass es ihm gefallen würde, bald einen Bundespolitiker im Dorf zu haben.
„Der hat wat auf de Beene gestellt!“ Bernd Wöhe steht in Trainingshose auf den Stufen seines Hauses, hat gerade den Tross heimfahren sehen und ist in seiner Wertung weniger dezent. Zu einer Rattenburg hätte sich die alte Rinderanlage der LPG „Freundschaft“ verwandelt, wenn der Kees nicht gekommen wäre. „Der hat Leute angestellt, die arbeitslos waren.“ Wöhe blickt die Straße hinab. „Nee, in Deetz wäre Weltuntergang.“ Er schüttelt sich fast bei dem Gedanken. Und was der alles veranstaltet, de Vries’ Hoffeste sind legendär.
„Wer den nicht wählt, ist selber Schuld“
Ob er denn auch gewählt hat? „Na sicher, man muss wählen gehen, Stimme verschenken jibts nicht!“ Wöhes Habitus wird staatstragend, die Stimme tief. Die Wahlbeteiligung hat den Wahlkreis Anhalt vor vier Jahren bekannt gemacht. War die Wahlbeteiligung in ganz Sachsen-Anhalt schon gering – 2009 lag sie bei 60,5 Prozent –, erreichte Anhalt mit 57,7 Prozent den Tiefpunkt. Am 54-jährigen Bernd Wöhe kann es nicht gelegen haben. Wöhe, Haare nach hinten gekämmt, Hände in den Hosentaschen, registriert jeden, der das Wahllokal ansteuert. „Nee, wer den nicht gewählt hat, ist selber schuld!“
Kees de Vries hat sein Jackett ausgezogen und steht vor dem Festzelt, das er neben dem Kuhstall errichten ließ. Der kühle Wind, der die Deutschlandfahne wehen lässt, kann ihm nichts anhaben. Ein Fernseher ist aufgestellt, eine Leinwand gespannt. Vom Dorf her kommen die Gäste gelaufen, erst gekleckert, dann werden es immer mehr. Es scheint, als würde eine Huldigung anstehen. Andere kommen mit Autos angereist, parken auf der Wiese, Blumensträuße in der Hand, Hunde trollen sich, Kinder spielen Fußball, Kuhstallgeruch weht herüber, Musik dudelt. Bald schäumt Freibier.
Als die erste Prognose einen Triumph für die Union verheißt, geht ein Raunen durch das Zelt. Als Angela Merkel auftritt, ruft einer dem DJ zu: „Ruhe, die Kanzlerin spricht!“ Und als Merkel sich bei ihrem Mann bedankt, reißt de Vries den Arm hoch und stößt einen Siegesruf aus. Die erste Hochrechnung für Anhalt flimmert über die Leinwand, de Vries führt haushoch.
Seine Frau Ella, die ihn in den vergangenen Minuten von hinten umfangen hat, als fürchte sie, ihr Mann könnte zusammenbrechen, würde der Abend wider Erwarten anders ausgehen, gibt ihm den Siegerkuss. Das knusprig gebackene Schwein schwebt auf einem Blech herein. „Das Büfett ist eröffnet“, ruft de Vries ins Mikrofon. In seinen Augen schimmert’s feucht.
Es ist nicht so, dass das Volk, an die 150 Personen mögen es sein, de Vries frenetisch bejubelt. Vielmehr scheinen es alle längst gewusst zu haben. „Ein Volltreffer für Deetz ist unser Kees“, sagt ein 82-Jähriger und klopft dabei beschwingt auf den Biertisch. Bernd Wöhe taucht auf, frisches Hemd, frisch rasiert. „Hab ich doch vorausgesagt!“, kommentiert er den Sieg des Patrons und stellt sich am Büfett an.
Ungläubige Blicke
Jan Korte sitzt 60 Kilometer entfernt in seinem Wahlkreisbüro, einen Steinwurf entfernt vom Bitterfelder Markt. Hier wirkt die ehemalige Arbeiterstadt mit ihren zugigen Industriebrachen geradezu heimelig. So richtig warm ums Herz wird es Korte aber nicht. Die Auszählung im Wahlkreis läuft noch, aber Korte macht sich keine Illusionen. Es ist halb neun, ein Großteil der Genossen und Unterstützer sitzt schon wieder zu Hause. Vor vier Jahren hat Korte das Direktmandat de Vries vor der Nase weggeschnappt. In diesem Jahr ist es umgekehrt.
Drei Freunde schneien herein, ahnungslos. „Wie sieht’s aus?“ – „Den Wahlkreis haben wir leider verloren.“ – „Was?“ Ungläubige Blicke. „Ja, der CDUler hat gewonnen.“ Die Linkspartei feierte 2009 in Sachsen-Anhalt ihren größten Triumph, sie holte fünf der neun Direktmandate, und mit 32,4 Prozent der Zweitstimmen überflügelte sie die CDU und deklassierte die SPD. Doch der Höhenflug der Sozialisten ist fürs Erste gestoppt.
Verglichen mit dem Feldherrenzelt in Deetz wirkt Kortes Büro wie ein Verschlag, Schreibtische, Kartons, Regale, dazwischen Kartoffelsalat, Würstchen, Rotkäppchen-Sekt und Bitterfelder Bier. Wäre das alte Industrierevier Bitterfeld-Wolfen ein eigener Wahlkreis, vielleicht hätte Korte dann die Nase vorn. Aber der Wahlkreis misst gut 100 Kilometer von West nach Ost und 80 von Nord nach Süd, umfasst winzige Dörfer, alte Residenzstädte, das Chemierevier, und es scheint, er wird von Wahl zu Wahl größer. Tatsächlich wurde er 2009 ausgedehnt, weil Sachsen-Anhalt wegen des Bevölkerungsrückgangs einen Wahlkreis abgeben musste.
Groß wie das Saarland sei der Wahlkreis, sagt Korte und redet dann von den kleinen Träumen der kleinen Leute, um die man sich bemühen müsse. Die Müllabfuhr, Telefonkosten, das Hochwasser. Korte, der Politikwissenschaftler, ist zum Kümmerer geworden. Umso betrüblicher ist das Ergebnis. Der Bauer hat gewonnen. Hundemüde verabschiedet sich Korte von seinen Getreuen und fährt zu seiner Familie nach Berlin. Seine Enttäuschung ist groß, sagen die, die ihn kennnen. Korte wird dennoch - über die Landesliste - in den Bundestag einziehen.
Um kurz nach elf liegt das Ergebnis vor: De Vries gewinnt mit 41 Prozent vor Korte mit 28,8 Prozent. In Deetz haben fast drei Viertel für de Vries gestimmt, die Wahlbeteiligung lag bei mäßigen 66 Prozent. Im Wahlkreis hat sie sich auf 59,4 Prozent gesteigert. Damit ist Anhalt jetzt Vorletzter in Deutschland, das Schlusslicht übernahm der benachbarte Wahlkreis Harz mit 58,9 Prozent.
Leser*innenkommentare
hertog van gelre
Gast
Das ist deutsch! Wahrhaft, eine so idyllische Geschichte zeigt doch, dass wir in Deutschland nur gute Menschen nötig haben, die sich um die Geschicke der Untertanen kümmern. Es braucht einfach jemand, der weiß, wo es lang geht und das Volk folgt. Die Bevölkerung wird in Zukunft viel öfter das Vergngügen haben zu befolgen, was andere für sie denken und verhandeln werden. Das schont das eigene Denkvermögen.
Es ist nur jammerschade, dass es dafür kein "von" mehr aus Gottes Gnaden gibt. Dann wäre man wieder dort angelangt, was in Ostelbien jahrhundertalte Tradition besitzt - das Junkertum. Der Deutsche ist und bleibt obrigkeitshörig.
???
Gast
@hertog van gelre Was ist denn daran falsch? Er hat Arbeit in die Region gebracht uns engagiert sich zusätzlich noch ehrenamtlich. Sollte er durch sein Verhalten "Junkertum" an den Tag gelegt haben - es hätte ihn ja niemand wählen müssen. Das er die Wahl doch gewonnen hat, mag vielleicht gerade daran liegen, dass die Menschen dort ihr Denkvermögen in Gebrauch genommen haben.