: Die Wächter enthaupten sich
Von unserer Redaktion
Top-investigativ. Tiefster Hintergrund. Meinungssicher. Unterhaltsam. Lesevergnügen. Mit solchen Begriffen arbeiten die beiden längst kaum noch unterscheidbaren Stuttgarter Blätter, die „Stuttgarter Zeitung“ und die „Stuttgarter Nachrichten“, wenn sie um AbonnentInnen werben.
Früher haben sie noch gesagt, sie gehörten zur Pflichtlektüre im Kanzleramt. Aber das ist heute, selbst wenn es wahr wäre, nicht mehr so zugkräftig. Außerdem ist das Einfangen neuer Kundschaft generell schwieriger geworden. Vor allem dann, wenn die Umworbenen merken, dass gar nicht stimmt, was ihnen versprochen wird. Höchstens teilweise.
Das Unterhaltsame zum Beispiel stimmt. Manche sprechen sogar schon von der „Bogen-Bühne“, wenn sie die „Stuttgarter Zeitungsnachrichten“ und ihren Gesellschaftsreporter Uwe Bogen meinen. Keiner hat soviel Platz wie er, keiner schreibt aber auch so anrührend-spannende Geschichten wie er. Herz, Humor, Bescheidenheit – Trudel Wulle, die schwäbische Volksschauspielerin, ist tot. Das hatte sonst keiner.
Jetzt ist es allerdings so, dass das nicht alles ist. Um dies zu erkennen, empfehlen wir Werner Schretzmeiers handschriftliche (hier abgetippt), der noch einmal daran erinnert, wozu eine Zeitung da ist. Der Chef des Stuttgarter Theaterhauses, einst selbst Journalist, knüpft an die aktuelle Situation an, in der Corona-Leugner, AfD-Anhänger und Nazis die Demokratie bekämpfen, und in der jene, die für eine demokratische Gesellschaft schreiben, die deren Wächter sein sollen, abgeschafft werden. Anstatt sie, hallo Geschäftsleitung?, zu stärken.
Hannes Rockenbauch und Luigi Pantisano, die beiden SÖS-Stadträte, berichten (online und in voller Länge im Video), wie sehr sie sich eine aufmerksame Begleitung des Gemeinderats wünschten – und kaum einer guckt mehr hin. Ähnlich übrigens auch der Stuttgarter Oberbürgermeister Frank Nopper in seinem Beitrag. Kleiner Hinweis ans Pressehaus: Politik kann unterhaltsam sein, wenn zwei begnadete Kleinkünstler sie im Video präsentieren.
Nach aller bisherigen Erfahrung wird sich der Konzern dieser Diskussion nicht stellen. Sie muss aber geführt werden, weil Macht Kontrolle braucht, Bürgerinnen und Bürger wissen müssen, was Politik und Wirtschaft tun, und sich auf die Vermittlungsinstanz verlassen können müssen. Das ist die Aufgabe der Presse, darüber ist zu debattieren.
*
Als mediales Postscriptum sei noch auf die „Querdenken“-Demo vom vergangenen Samstag hingewiesen. Rund 3.000 von ihnen sind vor das SWR-Gebäude in Stuttgart gezogen, einige haben dort „Lügenpresse!“ skandiert und in einer beliebten Telegram-Gruppe ist ein Video, das ihren Demo-Aufzug dokumentiert, mit der Bemerkung versehen: „Die Medien sind das Virus!“
Und in derselben Gruppe wird, nur wenige Postings später, ausgerechnet das öffentlich-rechtliche Format „Monitor“ dafür gefeiert, kritisch über die üppigen Impfvergütungen niedergelassener Ärzte berichtet zu haben. Ohne diese Arbeit, sagt Moderator Georg Restle, wäre „die Impfkampagne der Bundesregierung wohl ziemlich baden gegangen“. Und dennoch müsse die Frage erlaubt sein: „Ist das wirklich nötig? Dass Ärzte so gut an dieser Pandemie verdienen?“
Auch Kontext hat bereits darüber berichtet, wie Impfungen die Kasse klingeln lassen können – und sich in dieser Ausgabe noch ein paar weitere Fragen erlaubt: Anna Hungers und Minh Schredles Debattenbeitrag „Wissenstände unter Vorbehalt“ thematisiert die Rolle der Presse, diesmal in der Pandemie. Diskussionen sind auch hier erwünscht.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen