Die Vergangenheit des Carl Diem: "Krieg der Expertisen"
Wissenschaftler streiten über die Rolle des Sportfunktionärs Carl Diem. War er Gründungsvater des organisierten Sports in Deutschland? Oder war er Nazi und Antisemit?
Wieder ein Carl-Diem-Weg weniger. Anfang November wurden in Münster die Straßenschilder abmontiert, die an den Sportfunktionär und Sportwissenschaftler, den Organisator der Olympischen Spiele 1936 erinnert haben. Viele Sportschulen, Turnhallen, Straßen, die nach Carl Diem (1882-1962) benannt waren, wurden in den letzten 20 Jahren umbenannt.
Doch die Verehrung eines Mannes, der vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, die Zeit des Nationalsozialismus bis in die Bundesrepublik Deutschland eine beinahe ungebrochene Karriere vorzuweisen hat, geht weiter.
Höhepunkt der jüngsten Diem-Feierlichkeiten wird ein Kongress an der Sporthochschule Köln sein, der am 10. und 11. Dezember unter dem Titel "Erinnerungskultur in deutschen Sport" veranstaltet wird. Untertitel: "Carl Diem und andere Männer der (Sport-)Geschichte". Diethelm Blecking, Professor für Sportwissenschaft in Freiburg, spricht von einem "Weißwäscherkongress". Er tritt am Montag auf einem Symposium in Berlin auf, die kritische Sportwissenschaftler als Gegenveranstaltung zum Kölner Kongress in den Räumen der Stiftung Topographie des Terrors veranstalten.
Am geschichtlichen Umgang mit der Person Carl Diem entzündet sich ein wahrer Sporthistorikerstreit. Ralf Schäfer, Historiker am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, der das Berliner Symposium organisiert hat, spricht von einem "Krieg der Expertisen". Der tobt seit 1984. Da schilderte der damalige Chefredakteur des ZDF, Reinhard Appel, seine persönlichen Erinnerungen an die letzten Tage des Weltkriegs in Berlin.
Appel hatte als Hitlerjunge miterlebt, wie Diem am 18. März 1945 als freiwilliger Volkssturmoffizier auf dem Berliner Reichssportfeld ein HJ-Bataillon mit einer Durchhalterede auf den Endkampf eingestimmt hatte. Den organisierten Sport, der Diem als seinen Gründungsvater verehrt, traf die öffentliche Reaktion auf Appels Erinnerung unvorbereitet. Sporthistoriker, die sich in der Tradition Diems sehen, unter ihnen Ommo Gruppe, der selbst noch Schüler des Mannes war, der die 36er Spiele so perfekt inszeniert hat, begannen mit ihren Forschungen.
Im Auftrag des Deutschen Olympischen Sportbunds wurde ein wissenschaftlicher Beirat gegründet. Dessen Ergebnis ist an Deutlichkeit kaum zu übertreffen: "War Diem Nationalsozialist, Rassist, Antisemit? Antwort: Nein", heißt es in einer im März formulierten Empfehlung des Beirats an den DOSB, in der dieser explizit aufgefordert wird, sich "geschichtspolitisch" zu verhalten. Grund zur Umbenennung von Straßen gebe es nicht.
Grundlage für diese Einschätzung ist eine Biografie, die Frank Becker im Auftrag des Beirats verfasst hat. Drei Bände von "Den Sport gestalten. Carl Diems Leben" sind bislang erschienen. Der dritte befasst sich mit Diems Wirken in der Zeit des Nationalsozialismus. Doch der Autor selbst kommt nicht annähernd auf dieselben Schlüsse, die seine Auftraggeber aus der Biografie ziehen.
Eine Empfehlung, Diem weiter zu würdigen, will er nicht abgeben. Seiner Biografie, deren Quellengrundlage vor allem Tagebucheinträge von Diem und dessen Frau sind, fügt er eine "Stellungnahme zur öffentlichen Debatte um Carl Diem" an. Darin heißt es äußerst vorsichtig formuliert: "Jedes Gemeinwesen und jede Institution, die mit dem Problem konfrontiert ist, über die Beibehaltung oder Änderung einer Namensgebung zu befinden, sollte in den öffentlichen Prozessen demokratischer Willensbildung das Pro und Contra eines positiven Bezugs auf eine Persönlichkeit wie Diem abwägen."
Für seine Auftraggeber Grund genug, die Studie zu zerreißen, wo immer sich eine Gelegenheit ergibt. Becker hat seine Zurückhaltung über diese Auseinandersetzung längst aufgegeben. Für eine Veranstaltung der Grünen in Münster zur Umbenennung des Carl-Diem-Wegs verfasste er ein Thesenpapier, das mit der Aufforderung endet: "Benennt die Carl-Diem-Straßen um!" Heute spricht er in Berlin über die "Kontroversen um Carl Diems Rede am 18. März 1945".
Diese stellt einen Höhepunkt der "Verstrickung in Schuldzusammenhänge" (Becker) dar. Sie ist sicher ein besonderes Phänomen und als solches besonders kritisch zu würdigen. An Diems karrieregeilem Streben nach den höchsten Ämtern des deutschen Sports lässt sich dagegen beinahe schon exemplarisch die Rolle des nationalistischen und antidemokratischen Bürgertums als Wegbereiter des Nationalsozialismus darstellen. Ihre neurechte Ideologie war anschlussfähig an den Nationalsozialismus.
Die Diem-Fans hingegen unter den Sportwissenschaftlern preisen dessen Leistungen, was das Heranführen des Sports in die Moderne betrifft. Sporthistorker wie Michael Krüger, der Projektleiter des Diem-Beirats, der Becker so abgewatscht hat, oder Christiane Eisenberg feiern dies, ohne zu hinterfragen, wie die NS-Zeit in diese gefeierte Moderne hineinpasst.
Kritisch wird von diesen in der Geschichte lediglich die Rolle der deutschen Turner gesehen, deren militante Wehrertüchtigungsideologie so gar nicht zu der weltoffenen und geradezu pazifistischen olympischen Sportbewegung passe, für die sich Diem immer engagiert habe. Eisenberg geht sogar so weit, die Diem-Spiele 1936 "weniger als nationalsozialistische Propagandaveranstaltung denn als eine Auszeit des Regimes" zu sehen.
Diem selbst hätte nicht schöner über sich urteilen können. Nach dem Krieg, als er längst Hochschulrektor und Berater der Bundesregierung in Sportangelegenheiten war, bezeichnete er die Spiele als "Insel der Rassengleichheit" und "Oase der Freiheit in der Zwangsherrschaft". Dabei existierte "Rassengleichheit" für ihn selbst lange Zeit nicht. Juden bezeichnete er als körperlich ungeschickt, würdelos und unmilitärisch. "Nordischen" oder "arischen" Völkern attestierte er positive "Rasseeigenschaften". Wie heißt es in der von Michael Krüger verantworteten Empfehlung an den DOSB? "War Diem Nationalsozialist, Rassist, Antisemit? Antwort: Nein."
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