: „Die Ukraine sollte dem Weg der Türkei folgen – und in die EU“, sagt Hryhorij Nemyria
Das Land hat sich von der sowjetischen Kultur gelöst. Das unterscheidet es heute von seinem Nachbarn Russland
taz: Herr Nemyria, was hat die Ukrainer letztlich zu ihrem ausdauernden Protest motiviert? War es die Hoffnung auf ein besseres Leben? Oder der Hass auf die alten Apparatschiks?
Hryhorij Nemyria: Auslöser war die Fälschung der Wahlresultate. Natürlich hatten die Proteste auch etwas mit der Stärke einiger Organisationen und dem Charisma der Politiker zu tun. Das Beeindruckendste aber war, wie die Menschen sich selbst organisiert haben: Das war nicht nur in der Hauptstadt, sondern im ganzen Land zu beobachten.
Was war daran so besonders?
Es hat eine Abkehr von der sowjetischen Kultur stattgefunden. Die sowjetische Gesellschaft war eine apathische, zynische Gesellschaft, die nicht daran glaubte, dass etwas geändert werden könnte. Das hat sich nun geändert. Niemand kann hunderttausenden von Menschen befehlen, mehr als zwei Wochen lang in der Kälte zu demonstrieren. Das zeugt von einer Reife der Bürgergesellschaft.
Zeigt diese Veränderung einen Generationenwechsel?
Sicherlich ist es die junge Generation gewesen, die diese Veränderung angetrieben hat. Aber schon die Parlamentswahl im Jahre 2002 hatte bewiesen, dass die Ukrainer zur Demokratie bereit waren. Trotz fehlenden Zugangs zu den Medien hatte damals die Opposition die Parlamentswahl gewonnen. Die andere Hälfte des ukrainischen Parlaments ist allerdings nach dem Prinzip der Mehrheitswahl gewählt worden. Das hat dazu geführt, dass dort heute mehrheitlich Kutschma-Anhänger sitzen. Trotzdem fingen die Menschen damals an zu glauben, dass eine Veränderung möglich sei.
Warum hat diese Entwicklung in der Ukraine, aber nicht in Russland stattgefunden?
Anders als die Russen leiden die Ukrainer nicht unter einem imperialen Trauma, das man überwinden will, indem man unter Putin wieder an einem Großrussland arbeitet. Zudem leiden die Ukrainer nicht unter einem Tschetschenien-Syndrom. In Russland hat die Alternative „Sicherheit oder Demokratie“ den Raum für die Demokratie arg eingeengt. In der Ukraine war das so nicht der Fall. Schließlich sind viele Russen frustriert, weil sich charismatische Politiker wie Jawlinski kompromittiert haben, als sie an der Regierung beteiligt waren. Auch das hat es in der Ukraine nicht gegeben.
Wie ist die Revolution in Orange finanziert worden?
Die finanzielle Hauptquelle bildet die entstehende Mittelklasse in der Ukraine. Nicht nur Studenten, Lehrer und Doktoren waren auf den Straßen Kiews zu sehen – es gab auch viele Unternehmen, die die Demonstranten unterstützt haben. Die Frage „Wer finanziert wen?“ bleibt heikel, obwohl es leicht herauszufinden ist, welche Organisation Mittel von welchem westlichen Spender erhalten hat. Dagegen gibt es keine Informationen darüber, welche Organisation Russland finanziert hat.
Viele sehen den Kompromiss zwischen dem Kutschma-Regime und der Opposition als Verrat an der Volksbewegung. Was denken Sie?
Demokratie bedeutet Kompromiss. Die Opposition hatte eine Verfassungsreform schon nach der Parlamentswahl 2002 gefordert. Nun war es der Präsident, der das Thema „entführte“, um seine Zukunft nach einem Machtwechsel zu sichern. Der breit angelegte Kompromiss ist der Preis dafür, dass die Opposition nicht einheitlich ist. Für den Sozialisten Oleksandr Moros hatte die Verfassungsreform Priorität, Juschtschenko ging es um wirtschaftliche und politische Reformen und Julia Timotschenko nur um den Kampf.
Juschtschenko hat in einem wichtigen Punkt nachgegeben: dem Rücktritt von Ministerpräsident Janukowitsch.
Ja, das stimmt. Einige unangenehme Leute mussten aber gehen, unter ihnen der Generalstaatsanwalt. Juschtschenko konnte sich jedoch mit der Verfassungsreform gegen Kutschma durchsetzen. Kutschma wollte, dass sie sofort verwirklicht würde. Sie wird nun erst ab September 2005 oder ab 2006 realisiert. Die gegenwärtigen Vollmachten kann das neue Team in der verbleibenden Zeit nun nutzen.
Was kann Juschtschenko in so kurzer Zeit erreichen?
Zunächst kann er einen neuen Verteidigungsminister, Außenminister und Sicherheitsdienstchef ernennen und einen neuen Ministerpräsidenten und Innenminister vorschlagen. Die Frage ist, ob eine Verwaltungsreform der Regionalbehörden angepackt wird. Es muss entschieden werden, ob die Gouverneure der Regionen ernannt oder gewählt werden. Das ist ein kontroverses Thema in der Ukraine, weil einige Regionen separatistische Neigungen haben.
Juschtschenko strebt eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine an. Ist das nicht illusorisch, wenn man an die Schwierigkeiten der Türkei denkt?
Für die Türkei galt lange: zu groß, zu arm, zu muslimisch. Das hat sie aber nicht davon abgehalten, alles für einen Beitritt zu tun. Für die Ukraine galt lange: zu groß, zu arm, zu sowjetisch. Nun sind wir nicht mehr sowjetisch, und wir können auf ein enormes wirtschaftliches Wachstum verweisen. Ich denke, die Ukraine sollte den gleichen Weg wie die Türkei gehen. INTERVIEW:
MONIKA JUNG-MOUNIB