Die USA vor der Wahl: „Wie ein Dritte-Welt-Land“
Der Autor John Jeremiah Sullivan über Prognosen zur Präsidentschaftswahl, die Romantik der Occupy-Bewegung und einen Freudentanz von Serena Williams.
taz: Mister Sullivan, wer wird der nächste US-Präsident?
John J. Sullivan: Barack Obama.
Das sagen Sie aber selbstbewusst. Die Umfragen suggerieren doch ein knappes Rennen.
Nate Silver, ein Statistiker von der New York Times, schätzt die Chancen Romneys auf den Wahlsieg auf circa 30 Prozent. Ich vertraue ihm. Er bezieht ein, dass Millionen Jungwähler mit Mobiltelefonen nicht befragt werden. Außerdem haben die Medien ein Interesse daran, das Rennen möglichst offen darzustellen, damit die Einschaltquoten der Nachrichten und damit auch die Werbeeinnahmen hoch sind.
Der Rolling Stone schrieb neulich, dass Obama mit dem Slogan „No, you won’t“ antreten sollte. Damit sollte er ausdrücken, dass ohne ihn alles schlimmer gekommen wäre. Wieso ist der Enthusiasmus von 2008 verschwunden?
Das ist eines der größten Mysterien der US-Politik. Wie kann ein Präsident, dessen Wahl nicht nur ein Land, sondern den gesamten Planeten inspiriert hat, so in die Defensive geraten? Das verwundert mich bis heute. Aber, falls er wiedergewählt wird, werden wir ab Mittwoch einen mutigeren und aggressiveren Obama sehen. Er muss die Macht der Konzerne beschränken.
lebt in Wilmington, North Carolina und arbeitet als Redakteur für The Paris Review. Er schreibt für GQ und die New York Times. Soeben ist „Pulphead. Vom Ende Amerikas“ bei Suhrkamp erschienen, eine Sammlung seiner Essays und Reportagen. Im Süden Kentuckys recherchiert er, ob der Tod eines Zensus-Mitarbeiters ein Mord fehlgeleiteter Tea-Party-Anhänger gewesen sein könnte. Pop ist zentrales Thema für den 1974 Geborenen. Anhand von Michael Jacksons Auftritt beim 25-jährigen Jubiläum von Motown erklärt er etwa den Abnabelungsprozess von seiner Familie und dem Firmenboss Barry Gordy. Sullivan nähert sich Jackson über sorgfältig recherchierte Marginalia an: Interviewfetzen, semi-offizielle Liveaufnahmen, Schilderungen alter Freunde. Mittendrin: der subjektive Ich-Erzähler Sullivan. Zurzeit arbeitet er an einem Buch über den Sozialreformer Christian Gottlieb Priber, der 1735 nach North Carolina auswanderte, um seine radikal-aufklärerischen Ideen zu verwirklichen.
Würde das nicht seinem demokratischen Nachfolger als Präsidentschaftskandidaten schaden?
Ich hoffe, dass eine eindeutig progressive Agenda einem demokratischen Kandidaten eher nützen würde, weil Obama damit die Basis wieder begeistern kann. Kommt dann noch die Ökonomie wieder in Schwung, kann sich die Stimmung schnell wieder in Richtung der Vision von 2008 wenden.
Die politische Rechte hat im Jahr nach Obamas Amtsübernahme ihre eigene basisnahe Vision hervorgebracht – die Tea Party.
Genau daran scheidet sich die Rechte. Die Tea Party wurde vom republikanischen Establishment nicht umarmt, sondern war eher ein Mittel, um die Demokraten einzuschüchtern. Das Parteiestablishment hätte lieber die USA unter Reagan oder Nixon zurück. Aber sie wissen, dass die Zahlen nicht für sie sprechen. Deshalb interessieren sie sich so für das Wahlrecht und die Aufteilung der Wahlbezirke. Und wenn man gewinnen will, stellt man auch keinen Ayn-Rand-Fan als Vizepräsidenten auf. Dagegen wirken die Demokraten doch wie relativ vernünftige Zentristen.
Warum wird der Mythos des „Zentrismus“ im Moment wieder beschworen, etwa in der TV-Serie „Newsroom“?
Letztlich ist das Teil unserer Verfassung, dieses Systems der Checks and Balances. Nur bin ich mir unsicher, ob das in unserem Land noch funktioniert. Wir bekommen es nicht mal hin, die abgeschwächte Version eines Gesundheitssystems wie in Europa einzuführen, sondern lassen uns seine Bedingungen von den Versicherungsfirmen diktieren. Die Rechte sieht den Zentrismus nicht mehr als ihr Programm an.
Wie konnten die Republikaner selbst in der Gesundheitsdebatte Wähler mobilisieren, deren Interessen sie nicht vertreten?
Das bleibt ihr Geheimnis. Es gibt aber eine Tendenz der Arbeiterklasse, zu glauben, dass man zu den Gonna-Haves, den Aufsteigern, gehören wird. Sie identifizieren sich fast mit den Reichen, die sie wie Helden betrachten, und Romney kann diese Stimmung hervorragend anzapfen.
In Ihrer Reportage „In unserem Amerika“ schildern Sie eine Demonstration der Tea Party gegen Obamas Gesundheitsreform und sprechen dabei von „wir“. Warum?
Die Stimmung war so aufgeheizt, dass man nicht rational über das Gesundheitssystem debattieren konnte. Jede Seite nahm an, dass man die Position der anderen bis ins Kleinste kennen würde. Und ich wusste, dass 99 Prozent meiner Leser den Artikel mit dieser Haltung lesen würden, also wollte ich ihre Selbstsicherheit destabilisieren. Irgendwie waren es auch „meine“ Leute auf dieser Demonstration – viele Südstaatler, viele arme Weiße. Sie erinnerten mich an Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin, und ich fand ihre politische Naivität sympathisch. Die meisten hatten nie ernsthaft über ihre Gesundheitsversorgung nachgedacht, bevor dies ein Thema auf Fox News wurde. Sie waren aufgebracht und wollten Antworten. Republikanische Thinktanks haben diese Lücke dann mit einer E-Mail-Kampagne gefüllt.
Auch die Occupy-Bewegung hat mit „We are the 99 Percent“ auf die Masse gezielt, aber die einseitige Verteilung von Reichtum thematisiert. Waren sie erfolgreich?
Davon bin ich nicht überzeugt. In den USA ist die Mittelklasse der schlafende Riese, und für diese hat sich Occupy nie interessiert. Meine Mutter ist Englisch-Lehrerin und viele Slogans von Occupy hätten bei ihr Widerhall gefunden. Aber sie hatte niemals das Gefühl, dass sie zu den Camps gehen könnte, weil sich die Occupy-Bewegung schon fast narzisstisch eingekapselt hat. In Wilmington, wo ich wohne, waren ausschließlich Kids und Aktivisten im Camp. Aber die Tea Party wurde in dem Moment ernstgenommen, als Berufstätige auf ihren Demos auftauchten. Wenn das bei Occupy passiert wäre, hätte Washington aufgehorcht. Ich war nicht sonderlich von der Romantik der Occupy-Bewegung angetan. Ich wollte, dass sie etwas bewegen.
Obama hat dank Unterstützung der afroamerikanischen Basis 2008 die Wahl gewonnen. Wie hat sich deren Situation verändert?
Die Mittelklasse ist für Afroamerikaner durchlässiger geworden, gleichzeitig sperren wir immer noch eine obszön hohe Anzahl Schwarzer ein. In vielen afroamerikanischen Communitys herrscht völlige Chancenlosigkeit. Ich komme aus dem Süden. Dort, etwa in Mississippi, ist das Schulsystem teilweise auf dem Stand eines Dritte-Welt-Landes. Das wäre nicht der Fall, wenn diese Countys mehrheitlich von Weißen bewohnt wären, wenngleich die Situation für arme Weiße nicht viel besser aussieht. Ethnizität und Klasse verschränken sich dort.
Wie kann man denn als weißer Südstaatler angemessen über Rassenfragen sprechen?
Ich habe das Gefühl, dass man darüber gar nicht sprechen kann. Direkt nach der Wahl Obamas hat die schwarze Aktivistin und Autorin Bell Hooks gesagt: „Die Menschen werden über ein postethnisches Amerika reden und so tun, als hätten wir wegen eines schwarzen Präsidenten keinen Rassismus mehr.“ Ich denke aber, dass Rassismus gerade dadurch erhalten bleibt, indem Debatten über Ethnizität unterdrückt werden. Man muss den Leuten den Rassismus vielleicht nicht unter die Nase reiben, aber man muss ihn zumindest auftischen.
Haben Sie deshalb in einem Porträt der beiden tennisspielenden Williams-Schwestern erzählt, dass Serena Williams die Biografie des Sklavenführers Toussaint L’Ouverture in ihrer Pariser Wohnung als Deko stehen hat?
Sie kannte den gar nicht. Vielleicht mochte sie nur den Umschlag mit einem Schwarzen in stolzer Pose. Aber haben Sie den Tanz gesehen, den sie aufgeführt hat, nachdem sie in London die Goldmedaille gewonnen hat?
Nein, ich bin kein Tennisfan.
Das war ein Crip Walk, den Mitglieder der Crips, einer Gang aus Los Angeles, berühmt gemacht haben. Sie und Venus wurden als Kinder auf dem Weg zum Tennisplatz von den Crips beschützt. Mit diesem Tanz hat sie ein unglaubliches Statement gemacht. Als ich sie danach fragte, entgegnete sie: „Das war nur so ein Tanz.“
Wenn sie Verbindungen zu Gangs zugeben würde, hätten sich doch alle – Medien, Politiker – auf sie gestürzt.
Genau. Besonders nach den Olympischen Spielen, wo sie ihr Land vertrat. Stellen Sie sich vor, zwei wunderschöne Schwestern aus einer weißen Familie würden jahrelang eine Sportart so dominieren wie die Williams-Schwestern. Wir würden ihre Gesichter in den Mount Rushmore meißeln. Im Tennis gibt es eine Menge Leute, die sich danebenbenehmen. Marat Safin war ein Monster, er behandelte Linienrichter schlecht und hatte Wutanfälle auf dem Platz. Aber bei den Williams-Schwestern sagen alle, dass sie den Sport gewalttätig machen. Und ich glaube, dies ist ein Code für die Unfähigkeit, über „Race“ zu reden, und stattdessen Spiegelfechtereien zu betreiben.
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