Die USA nach den Midterms: Was wird aus den Verlierern?

Wut, Hass und Bürgerkriegsszenarien in der amerikanischen Gesellschaft sind Ausdruck der Modernisierungsschmerzen auf dem Weg in die ökologische Zivilisation.

Republikanische Wahlveranstaltung im November 2022 Foto: dpa

Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 15.11.2022 | Die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft ist Ausdruck der zur politischen Hegemonie im öffentlichen Leben herangewachsenen unstillbaren Modernisierungsschmerzen auf dem Weg in die ökologische Zivilisation. Diese Modernisierungsschmerzen sind mit aufgeklärten Argumenten und Hoffnung bietenden Versprechen nicht zu lindern. Das auf der Ausplünderung der fossilen und anderer Ressourcen aufgebaute und für ewig sicher gehaltene „Gute Leben“ im Westen löst sich unaufhaltsam auf.

Die Modernisierungsverlierer müssen in ihrem Alltag, zunehmend verzweifelt, zur Kenntnis nehmen, dass das amerikanische Versprechen auf Glück und seine politische und gesellschaftliche Hegemonie, exklusiv für alle Enkel der weißen Einwanderer, nicht mehr gilt. Es wird für eine mehr oder weniger gleichberechtigte, multiethnische, pluralistische und atheistische Gesellschaft neu begründet. Viele vormals relativ stabile soziale Strukturen verlieren ihre Bindungskraft. Sie bieten keine automatische Vorherrschaft qua Geburt, Hautfarbe und Glauben mehr.

Verstärkt wird dieser Prozess durch die vom großen Kapital längst als eigene Perspektive energisch vorangetriebene ökologisch-industrielle Revolution, in der Millionen Arbeitnehmer einfach überflüssig werden. Für die von der historischen Bühne Abgetretenen gibt es in ihrer großen Mehrheit kein Zurück. Sie sind die Verlierer des historischen Fortschreitens ins ökologisch bestimmte Menschenzeitalter. Sie müssen in der liberalen Gesellschaft Amerikas selbstverantwortlich Wege finden, wie sie damit zurechtkommen.

Es ist verständlich, dass sie wütend sind und ihr Überflüssigsein nicht einfach hinnehmen. Eine andere Frage ist, wie sie es tun: Sie verorten sich in den aus „fake news“ konstruierten Parallelwelten, die ihnen die sozialen und digitalen Medien zur Verfügung stellen. Die Lügen, die dort verbreitet werden, sind für sie Wahrheit und Wirklichkeit. Wissenschaftlich valide belegte Erkenntnisse zählen für sie nicht.

Republikaner befeuern die Bereitschaft zum Bürgerkrieg

Sie sind, das ist das Besondere an den rechtspopulistischen Bewegungen in den USA, legal und unbeschränkt bewaffnet. Der vom abgewählten Präsidenten Trump befeuerte Versuch, am 6. Januar 2021 das Kapitol in Washington zu stürmen, muss als ihre Bereitschaft zum Bürgerkrieg interpretiert werden.

Sie haben ein klares Feindbild. Ihr Hass gilt den liberalen Eliten an der Ost- und der Westküste, in New York und San Francisco. Sie hassen deren Erfolg, deren demokratisches, elitäres Selbstverständnis, ihre arrogant erscheinende Dominanz in der Hochkultur. Sie betrachten die in der amerikanischen Verfassung festgeschriebenen Rechte und Strukturen als von ideologischen Interessen bestimmte Instrumente für den Machtmissbrauch durch die Liberalen.

Sie lassen sich von den finanziell mächtigen Teilen des Kapitals politisch organisieren. Sie folgen den verlogenen Versprechen der Republikaner, dass ihre untergegangene Welt erhalten werden kann, wenn sie ihnen an die Macht verhelfen. Die Republikaner sind ihr politisches Kampforgan. Mit und ohne Trump, das macht keinen Unterschied.

Dass bei den Midterms-Wahlen in der vergangenen Woche ein Durchmarsch dieser Republikaner ausgeblieben ist, mag zunächst beruhigen. Am Befund der tief gespaltenen Gesellschaft in den USA ändert das nichts. Selbst wenn Trump eine erneute Nominierung für das Amt des Präsidenten in 2024 verfehlen sollte: Die Alternativen zu ihm vertreten die gleichen antiliberalen, antidemokratischen, modernisierungsfeindlichen und isolationistischen Positionen.

Die Frage bleibt bis auf weiteres unbeantwortet, wie die größte Demokratie unter den Bedingungen dieser Polarisierung funktionieren, ihre Freiheit im Inneren verteidigen und die bisherige sichernde Rolle in der westlichen Welt weiter einnehmen kann. Ohne die USA , ihre wirtschaftliche und militärische Kraft, ihre wissenschaftliche Potenz und ihren unbedingten Führungswillen hat ein Übergang der Weltgesellschaft in ihr ökologisches Zeitalter, ihr Übergang zu einer weltweiten Governance als direktes Management der Ökosysteme kaum Realisierungschancen.

Pathos und Patriotismus als politisches Werkzeug

Der Blick auf die demokratische Hälfte Amerikas ist keineswegs beruhigend. Ganz abgesehen davon, dass viele in der woke-bestimmten Cancel Culture mitschwimmen und damit die bürgerliche liberale Mitte schwächen, sind die Probleme gewaltig, die die amerikanische Politik, gerade auch im Hinblick auf die Absicherung der Verlierer in der ökologischen industriellen Revolution zu lösen hat, was ja eben auch im Konsens mit Teilen der Republikaner geschehen muss.

Die Kriminalität in den USA hat in den letzten Jahren massiv zugenommen. Die nach wie vor ungeregelte Einwanderung destabilisiert die Gesellschaft. Ein bundesweit einheitliches und für alle zugängliches Gesundheitssystem gibt es genausowenig wie einen grundsichernden Sozialstaat. Ein freier und kostenloser Zugang aller sozialen Schichten zu allen Bildungsmöglichkeiten fehlt weiter. Eine Regulierung der alles überwölbenden Macht der digitalen Medienkonzerne kommt nicht voran. Die Außenpolitik wird weiter von Isolationismus und Protektionismus anstelle einer planetarisch gedachten Weltpolitik bestimmt.

Und: Privater Waffenbesitz ist nach wie vor unbeschränkt erlaubt. Damit besteht die reale Gefahr eines Bürgerkrieges von rechts und die dadurch notwendige bewaffnete Verteidigung der Freiheit durch die Liberalen, wenn es sein muss mit der Nationalgarde oder auch mit der Armee.

Ein in jeder Hinsicht unerfüllbares Aufgabenpaket könnte man meinen. Aber die amerikanische Gesellschaft hat aus dem nun schon 200 Jahre alten und ungebrochenen Selbstbehauptungswillen ihrer Verfassungsväter einen für europäisches politisches Denken peinlich anmutenden Patriotismus und Pathosformeln entwickelt, für die sie in Europa öffentlich belächelt oder verachtet, heimlich aber bewundert werden. Dieser Patriotismus schließt eine existenzbedrohende Krise der amerikanischen Demokratie und den Verlust ihrer Zukunftsfähigkeit nicht automatisch aus, bietet aber Orientierung und hält politische Wege für die Bewältigung der Zukunftsaufgaben offen.

Die Dichterin Amanda Gorman hat diesen Patriotismus bei der Amtseinsetzung von Präsident Biden in einem für europäische Ohren irritierenden, aber gleichzeitig anrührenden poetischen Klang eingefangen: „Wo wir einst fragten: Wie sollten wir Katastrophen je beherrschen können? Rufen wir nun: Wie sollte die Katastrophe uns jemals beherrschen? Unser Weg führt uns nicht zurück, zu dem was war; sondern voraus zu dem, was werden soll: Ein Land, das angeschlagen ist, aber ganz, guten Willens, aber gefeit, wehrhaft und frei.“

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.

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