Die Streitfrage: „Keinen Kringel missen“
Ist Schreibschrift überflüssig? Nein, sie ist ein Abenteuer, findet Bastian Sick. Weg mit den Füllern, entgegnet Netzaktivistin Katharina Nocun.
„Mit dem Erlernen der Schreibschrift begann für mich eines der größten Abenteuer meines Lebens“, schreibt Bastian Sick, Sprach-Entertainer und Autor von „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ in kleinen runden Schreibschriftbuchstaben für die taz.am wochenende. „Ich möchte keine Schlaufe und keinen Kringel davon missen.“ Schreibschrift müsse nicht immer Schönschrift sein, meint er, sie könne Ecken und Kanten haben - wie ihre Besitzer. „Wer keine Schreibschrift lernt, der entwickelt keine individuelle Handschrift und folglich auch keine Unterschrift. Wie soll er als Kunde je einen Vertrag unterschreiben oder als Star Autogramme geben?“
Die Schreibschrift gehört in Finnland ab Sommer 2016 nicht mehr zum Lehrplan. Bei deutschen Fachleuten löste das Unverständnis aus. Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, bezeichnete die Aufhebung der Schreibschriftpflicht als „Kniefall vor der fortschreitenden motorischen Verarmung unserer jungen Leute“.
Minna Harmanen vom finnischen Bildungsministerium begründete die Entscheidung damit, dass die Kinder auch aus Druckbuchstaben einen individuellen, mehr oder weniger verbundenen Schreibstil entwickeln könnten. Und ohne die Schreibschrift bleibe mehr Zeit, um das Schreiben auf der Tastatur zu üben.
Auch in einigen deutschen Grundschulen wird schon mit der Grundschrift experimentiert, einer Schrift, die auf zu verbindenden Druckbuchstaben beruht. Ist die Schreibschrift also überflüssig?
![](https://taz.de/picture/70221/14/wochenendkasten_bd3daa.png)
Warum sollte jemand Daten besitzen? „Luft gehört auch keinem“, sagt Evgeny Morozov. Oft wird er als Internetkritiker bezeichnet. Dabei will er die Schreibmaschine gar nicht zurück. Das Titelgespräch über Google, Weißrussland und den Humor der Zukunft lesen Sie in der taz.am wochenende vom 31. Januar/1. Februar 2015. Und: Finnland schafft die Schreibschrift ab, damit Schüler mehr Zeit zum Tippen haben. Auch Deutschland ist ein Blockbuchstabenland geworden. Ist die Schreibschrift überflüssig? Mit Gastbeiträgen von Martin Walser und Katharina Nocun - verfasst mit Kugelschreiber. Außerdem: Warum man Sauerteig auch mal mit ins Kino nehmen sollte. Von einem Bäcker und seiner Beziehung zum Brot. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
„Nehmt den Kindern die Füller weg“, antwortet der Autor Tex Rubinowitz, „bis sie merken, dass man mit einer Maus nicht unterschreiben kann.“
Ist die Schreibschrift überflüssig?
„Das Handwerkszeug der Weltretter von morgen ist die Tastatur, nicht der Füller. Lasst sie uns ausstatten!“, entgegnet die Netzaktivistin Katharina Nocun, einst politische Geschäftsführerin der Piratenpartei, in der taz.am wochenende vom 31. Januar/1. Februar.
Die Tastatur der Gipfel der Effizienz? Holm Friebe, Gründer des Kreativen-Netzwerks Zentrale Intelligenz Agentur, ist sich da nicht so sicher. „In Spike Jonzes Film ,Her' sehen wir eine nicht allzu ferne und nicht unplausible Zukunftsvision, in der Texteingabe nur noch über Spracherkennung funktioniert.“ Insofern wäre die Tastatur selbst eine bedrohte Kulturtechnik, die es in Technikmuseen und Brauchtumsvereinen zu schützen und konservieren gelte.
Was die mediale Zukunft angehe, habe man aber „schon Pferde kotzen sehen“, schreibt er weiter. „Wer hätte seinerzeit gedacht, dass sich die Jugend per SMS und Whatsapp einmal noch die Finger wund tippen würde?“ Die Entwicklung könnte auch in eine andere Richtung gehen: „Vielleicht wird kaligrafierte Schönschrift mit Füllfederhalter genau deshalb der nächste heiße Scheiß, weil sie nicht mehr auf Lehrplänen steht.“
Die Streitfrage „Ist die Schreibschrift überflüssig?“ beantworten außerdem der Schriftsteller Martin Walser und die taz-Leserin Susanne Ulmke – in der taz.am wochenende vom 31. Januar/01. Februar 2015.
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