: Die Stadt, das Raubtier und der Kapitalismus
In seinem Science-Fiction-Roman „Perdido Street Station“ malt der britische Schriftsteller China Miéville das düstere Panorama eines Gemeinwesens der Zukunft. Für eine politische Lesart bietet das tausend Seiten dicke Opus magnum des bekennenden Trotzkisten zahlreiche Anknüpfungspunkte
von HARALD KELLER
Schroffen, Bilge, Alfanzerei. Wendeln, faschieren, posamentieren. Glosend, blakend, oneirisch. Wohlklingende Worte sind das, anmutig und und sibyllinischem Gehalt. Und doch – oder gerade deswegen? – droht ihnen, wie so vielen schönen Dingen, die baldige Ausrottung. Der Bestand schmilzt rapide; besonders gefährdet ist er im publizistischen Tagesgeschäft, wo fahrige Redakteure reflexartig alles ausmerzen, was sich ihrem unsteten Auge in der Hektik unordentlicher Produktionsphasen nicht auf Anhieb erschließt. Selbst die Dudenredaktion versagt inzwischen der einen oder anderen noch so zierlichen Vokabel schnöde die Aufnahme ins Standardwerk. Es braucht schon eines Spezialdiktionärs, damit das lieblos expatriierte Wortgut nicht bald schon völlig in Vergessenheit gerät.
Bisweilen aber findet man ausnehmend sorgsam vorgenommene Formulierungen ausgerechnet in einer Leseecke, in die sich feuilletonische Wortführer und hauptamtliche Feingeistdarsteller nur selten verirren. So entstammen die oben angeführten Begriffe dem dickleibigen Roman „Perdido Street Station“, der in Deutschland auf zwei Taschenbuchbände aufgeteilt wurde und unter den (in dieser Reihenfolge zu lesenden) Titeln „Die Falter“ und „Der Weber“ bei Bastei Lübbe erschienen ist.
Der Verlag führt das opulente Werk als „Science-Fiction“ und damit etwaig Interessierte ein wenig in die Irre. Denn der Autor China Miéville erzählt nicht von tollkühnen Milchstraßenbengeln, außerirdischem Gezücht oder turbulenten Zeitreisen. Vielmehr entwirft er eine unvergleichliche, der unsrigen sehr ferne Welt und beschreibt als deren Brennpunkt New Crobuzon, ein raumgreifendes urbanes Geklumpe, geschäftig, gefräßig und gefährlich, weil von vielfältigen und nicht immer friedfertigen Rassen und beutegierigen Spezies bevölkert. Kontrolliert wird es von einem autoritären Regime, das dem Verbrechen einen nur wenig eingeschränkten Lauf lässt, solange die politische Herrschaft und die freie Entfaltung der Wirtschaft keiner Gefährdung unterliegen.
Das Leben in diesem vor Gier und Giften strotzenden Moloch wird im Wesentlichen von einer frühindustriellen Wirtschaft geprägt, deren rücksichtslose Produktionsmethoden unter anderem auf unerhörten Kombinationen von primitiven mechanischen Fertigungstechniken mit übersinnlichen Befähigungen basieren. Hier ist die Magie eine seriös betriebene Wissenschaft mit widerstreitenden Fakultäten und gesellschaftlichen Konsequenzen – keine infantile Allmachtsfantasie wie bei „Harry Potter“ und seinesgleichen.
Im Untergrund New Crobuzons regt sich geheimer Widerstand; als ungleich größere Bedrohung aber erweist sich das Anliegen eines von weither kommenden Vogelmenschen vom Volk der Garuda, dessen Flügel in einem Akt grausamer Züchtigung kupiert wurden und der seither nur eines ersehnt: eines Tages wieder fliegen zu können. Er wendet sich, einen reichen Goldvorrat im Gepäck, an den verfemten Grenzwissenschaftler Isaac dar Grimnebulin. Der nimmt den Auftrag an und bewirkt, als er im Verfolg der ihm übertragenen Entwicklungsaufgabe nach exotischen Forschungsobjekten Ausschau hält, ungewollt eine Katastrophe, deren Folgen den Stadtstaat erschüttern und Isaac selbst mehr als nur seine Existenz kosten werden …
Eine knappe Inhaltsangabe vermag schlechterdings keinen zureichenden Eindruck vom epischen Gehalt der zweimal 558 Seiten zu vermitteln. Der 30-jährige Autor bringt dem Publikum das umfassende Panorama eines Gemeinwesens vor Augen und eröffnet zugleich Einblicke in seine politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, beschreibt Produktionsmittel und Besitzverhältnisse, Arbeitskämpfe und politische Ränke, eine widerständige Boheme und das problematische Zusammenleben einander fremder Spezies, Rassen und Kulturen.
Miéville bewältigt dies ungemein bildhaft, in einer eigenwilligen, herausfordernd anspruchsvollen Sprache. Seine Schilderungen sind auf klug bemessene Weise ausschweifend und dabei so nachhaltig, dass sich der Leser nach Beendigung der Lektüre ohne weiteres in der wild wuchernden Agglomeration von New Crobuzon zurechtfinden würden, geografisch wie auch gesellschaftlich: „Die Stadt bäumte sich gewaltig empor, wie inspiriert von den Gebirgsmassiven im Westen. Verwitterte Wohnklötze, zehn, zwanzig, dreißig Stockwerke hoch, prägten die Skyline. Sie stachen in die Luft wie feiste Finger, wie geballte Fäuste, wie Stümpfe von Gliedmaßen, die aufgeregt über den Undulationen der niedrigeren Häuser gestikulierten. Die Massen Beton und Teer, aus denen die Stadt bestand, hatten nicht vermocht, die natürliche Physiognomie des Areals gänzlich auszulöschen, sondern spiegelte diese wider. Schäbige Hütten, Katen, Baracken ergossen sich die Flanken von Vaudois Hill, Flyside, Flag Hill und St. Jabber’s Mound hinab wie Geröll.“
Miévilles Sprache speist sich zum Teil aus fremden oder vergessenen Slangs und Argots, ist gespickt mit selten angewandten oder schlicht aus der Mode gekommenen Begriffen und mancherlei Bezeichnungen ungeklärter Herkunft. Der Verfasser ist förmlich sprachversessen: Ungewöhnliche Worte notiert er, um sie bei passender Gelegenheit zur Anwendung zu bringen. Zudem versteht er sich darauf, Dialekte nachzuahmen oder für Figuren wie den zwischen den Dimensionen tänzelnden „Weber“ eine individuelle Diktion gleichsam zu komponieren. Miévilles nicht immer leicht zugänglicher Stil wurde mit größter Sorgfalt und entsprechendem Zeitaufwand von Eva Bauche-Eppers ins Deutsche übertragen – eine selbst bei besser beleumdeten Sparten nicht alltägliche Mühewaltung, die Anerkennung verdient.
Neben Miévilles sprachlichem Vermögen ist seine politische Haltung von Belang. Der politisch aktive Trotzkist – er ist Mitglied der Sozialistischen Allianz und liefert auf Anfrage auch akademische Texte wie „Marxism and Fantasy“ – distanziert sich nachdrücklich von schicksalhaft dräuenden Heldensagen, die die Erbfolge von Tolkiens „Herr der Ringe“ anzutreten suchen. In „Perdido Street Station“ sind die Wesenheiten – es handelt sich nicht durchweg um Menschen – in jedem Fall eigenverantwortlich, für positive ebenso wie für negative Bewandtnisse. Es gibt keine Vorsehung, die über ihre Geschicke bestimmt.
Zugleich lehnt Miéville kategorisch ab, den fantastischen Roman mit Agitprop zu befrachten. In einem Interview äußerte er zu diesem Thema: „Ich gebe meinen Bücher eine politische Substanz, die sehr realistisch ist, zynisch und brutal.“ Dass sich das einmal ändern könnte, schließt er indes nicht aus – das Abfassen eines positiven politischen Romans würde ihm sogar großen Spaß bereiten.
Dennoch ist „Perdido Street Station“ einer politischen Interpretation keineswegs entzogen, sondern bietet im Gegenteil zahlreiche Ansätze. Die gesellschaftliche Verantwortung der Naturwissenschaften, konkrete Streikaktionen, der Widerstand einer brutal unterdrückten Opposition sind nur einige der Sujets, die in Miévilles umfangreichem Epos Ansprache finden.
Miéville sieht sich ausdrücklich in der Tradition linker Science-Fiction-Literatur; beginnend mit William Morris’ „News from Nowhere“ (1890) und fortgeführt von Autoren wie neben anderen Ursula Le Guin und Michael Moorcock, die als gesellschaftspolitisch, teils auch historisch interessierte Grenzgänger zwischen Science-Fiction und Fantasy namhaft wurden.
Miéville debütierte 1999 mit dem Roman „King Rat“, der von Bastei Lübbe für Januar 2003 angekündigt wird. Mit dieser im Untergrund Londons angesiedelten modernen Rattenfängerballade machte Miéville auf Anhieb auf sich aufmerksam und wurde für mehrere Auszeichnungen nominiert. Für „Perdido Street Station“, das 2000 veröffentlichte Meisterstück, dem er mit „The Scar“ bereits eine weitere „New Crobuzon“-Erzählung folgen ließ, erhielt er den „Arthur C. Clarke Award“ und den „British Fantasy Award“.
Miéville studierte Anthropologie und Rechtsphilosophie, schrieb sein erstes Buch während eines Studienaufenthalts in Harvard, lebt aber vornehmlich in seiner Heimatstadt London, die ihm, wie seine Beschreibungen der am Zusammenfluss zweier Ströme gelegenen Stadt New Crobuzon unschwer erkennen lassen, wiederholt als Inspiration diente.
China Miéville: „Perdido Street Station 1: Die Falter“. Aus dem Engl. von Eva Bauche-Eppers. Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 2002, 558 Seiten, 8,90 €Ľders.: „Perdido Street Station 2: Der Weber“. Aus dem Engl. von Eva Bauche-Eppers. Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach, 558 Seiten, 8,90 €
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