■ Das Portrait
: Die Sommerzeit

Am Sonntag wird sie hundert: die Standardzeit zum Lenzenfest, eingeführt mit dem „Reichsgesetz betreffend eine einheitliche Zeitbestimmung“ vom März 1893, durchgesetzt erstmals (und nicht dauerhaft) im Ersten Weltkrieg – um Energie zu sparen. Eine prosaische Einrichtung also, zudem schon bei ihrer Erfindung mit Argumenten bemäkelt, die gleichsam avantgardistisch anmuten: die „gute, alte, liebgewordene Ortszeit“ falle „dem Normalisierungsdrange erneuerungseitler Normalmenschen zum Opfer“, hieß es zum Beispiel; heute würde der Eigensinn der jeweiligen Lebenswelt zum selben Multikultilokalanschlag gebracht oder gar der Terror der Moderne in Normierung und Überwachung zeitmesserscharf analysiert.

Dabei wird die Sommerzeit derzeit von ihren Befürwortern vor allem mit verkehrs- und wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten begründet... Zu Verwerfungen in der deutsch-deutschen Politik führte gar der zweite Versuch, die Sommerzeit standardmäßig einzuführen, und zwar aufgrund der Ölkrise im Jahre 1973: Herbert Wehner meldete vier Jahre später, beim Entwurf eines neuen Zeitgesetzes (sic!) gesamtdeutsche Bedenken gegen die Sommerzeit an.

Denn da die DDR dieselbe nicht einführen wollte, wäre zur Mauer in Stein und der in den Köpfen womöglich eine in der Zeit hinzugekommen. Gleichwohl wurde das Gesetz verabschiedet, und die DDR schloß sich schließlich – und zeitgleich – an.

Nr. 18

Foto: Ute Weller

Nun, da die Mauer nur noch Motzkis Gesicht trägt, können wir uns also ohne gesamtdeutsche Bedenken der Frühlingsfreude anheimgeben, die (für die Diensttuenden unter uns) vor allem darin liegt, daß man nun bei der Arbeit das Fenster öffnen und ins Helle blinzeln kann...

Und bald kömmt ja auch die Zeit, da alle Ufer Mitteleuropas von Paaren und Pärchen bevölkert werden, die, samt Decke, Hund & Kind, das Leben schlicht und kostenlos genießen: dann schlagen alle Uhren, von Paris bis Budapest, dieselbe MEZ, und alle Triebe aus, und alle Wellen & Herzen höher.

Man verliert wieder reihenweise Sonnenbrillen, die Cafés werden Don-Johnson- mäßig bevölkert und Brigitte wartet eisbechersicher mit der neuen Frühjahrsdiät auf... Auch wenn es vom Himmel hoch her noch nicht so aussieht, die Uhren zeigen an: es lenzt, GenossInnen!

ES