Die Seele von „Clärchens Ballhaus“: Nachruf auf Schnurrbart und Schnauze
Als Garderobier, Rausschmeißer und gute Seele prägte er Clärchens Ballhaus über Jahrzehnte; 2019 musste er gehen. Günter Schmidtke ist gestorben.
Im Sommer wird Clärchens Ballhaus, das legendäre Tanzlokal, wieder seine Türen öffnen. Nach einer längeren Ruhephase: Besitzerwechsel, Umbau, Lockdown. Die Gäste freuen sich schon jetzt über Konzerte, aber es fehlt irgendwas, irgendwer. Das bisherige Personal, aber ganz besonders Günter Schmidtke. Über fünfzig Jahre arbeitete er hier, war die gute Seele des Betriebs.
Nach langer Krankheit ist Günter, ein Mann mit kunstvollem Schnauzer und schneeweißen Haaren, dessen ganze Familie seit eh und je in „Clärchens“ arbeitete, gestorben, 85 Jahre wurde er alt. Mit seinem Fortgang endet eine Ära. Die Hauptstadt hat eines ihrer seltenen Originale verloren.
Ich mochte seine Direktheit, seine Berliner Schnauze, seinen Humor. „Juten Tach, fliegender Holländer! Jib´ deine Gören mal jut wat ze essen, se sehen etwas blass aus! Und nimm deene Frau ihr Mantel ab und jib se mir!“, befahl der Garderobier, stets im Anzug und mit weißer Krawatte, der gleichzeitig auch Rausschmeißer war.
„Zieh Bauch ein, Junge!“
Immer hatte er einen Spruch drauf. Nicht nur für die, die reinkamen, in der Schlange standen, sondern auch für die, die nach dem Tanzen weiterzogen: „Paß uff deene Kleenen uff!“ Oder die, die gegangen wurden: „Wenn eener zu volle war, sich bei den Bräuten daneben benahm, den hab ick rausbugsiert“, sagte er einmal.
Günters Fitness war auch im hohen Alter phänomenal. Seine rechte Direkte, auf meinen Solarplexus oder Magen gerichtet, war blitzschnell: „Zieh Bauch ein, Junge!“ Seine Muskulatur war durchtrainiert wie bei einem Profiboxer. Als würde er den halben Tag Sit-ups und Liegestütze machen.
„Was ist dein Geheimnis?“, fragte ich ihn 2013, als das Ballhaus vor genau hundert Jahren von Clärchen gegründet worden war. „Ach“, sagte er, „von hart, ordentlisch und sauber arbeiten is noch nie eener jestorben“, nahm ein Schluck von seiner Pulle und zündete sich eine Zigarette an.
Er saß genüsslich im Wintergarten, spielte mit seinem goldenen Siegelring, die Tür zum kleinen Innenhof geöffnet. Drinnen aßen die Gäste, der Saal war voll, weiße Decken auf den Holztischen, an den kahlen Wänden hingen silberne Lamettagirlanden. Pärchen und solche, die es werden wollten, nahmen währenddessen an einem Tangokurs teil oder schwooften sanft herum.
„Weeßte, meen Kleener“
Draußen vermischte sich die Schwüle von drinnen mit der etwas kühleren Abendluft. „Weeßte, meen Kleener, hier sah ick als junger Bursche de Russen. Det waren Kosaken, die ihre jestohlenen Pferde jefressen haben.“ Günter war ein Trümmerkind aus der Kleinen Hamburger Straße, spielte zwischen den Ruinen der ehemaligen Reichshauptstadt mit Blindgängern. Stalins Soldaten gaben ihm etwas zu futtern: „Seitdem ess ick keen Pferdefleisch mehr.“
„Keule“, so Günters Rufname, nach eigener Aussage geboren auf einem Kartoffelacker bei Berlin, war auch ein Kind der DDR. Als Nachkriegsjunge musste er im Oderbruch mit seinem Bruder Manfred Gemüse klauen. Früh verließ er die Schule, wurde Bauarbeiter an der Stalinallee, war Handwerker und Autoschrauber. Günter wurde Kraftfahrer, war beteiligt am Mammutprojekt Fernsehturm. Danach wurde er ausgezeichnet als „Held der Arbeit“. „Dafür musst’n wa den Schutt vom Stadtschloss wegfahren“, erzählte er mir in seiner Plattenbauwohnung hinterm Haus des Lehrers am Alexanderplatz. Um 1968 kam er zum Ballhaus, damals in Händen von Clara Habermann, die neu geheiratet hatte. Seine Mutter Edith war an der Kasse, sein Bruder Manfred wurde Kellner.
In den Jahren danach wurde Günter zum Gesicht des Tanzlokals. Nach der Wende, wieder eine Stunde null für Berlin, wurde das Geschäft schwieriger. „Mein Start vor Ort war 1991“, sagt seine jüngste Tochter Ilka, damals gehörte der Laden der Familie Wolff. Aber die NVA-Soldaten, die Westbesucher und das alte Publikum kamen immer weniger zum Gesellschaftstanz, stattdessen waren in den Brachflächen von Mitte das Kunsthaus Tacheles und Techno angesagt. Clärchens Ballhaus lag lange im Dornröschenschlaf, während das ehemals jüdische Scheunenviertel wie ein Magnet junge Abenteurer, Lebenskünstler, Studenten und Hausbesetzer aus der ganzen Welt anzog.
„Um 2004 übernahmen wir das Traditionshaus“, erzählt Christian Schulz, „mit Schwung und neuem Konzept, aber auch mit dem alten Personal, Günter und seiner Familie.“ Es waren die Jahre nach dem Crash der Dotcom-Blase, Berlin war arm und sexy: „Die Leute sehnten sich nach einem neuen Gemeinschaftsgefühl“, so der vorletzte Betreiber.
Bier und Bulette
Schulz stand damals mit Günter zusammen an der Tür: „Durch Kommunikation mit Niveau und natürlich seine wunderbaren Späßchen redete er ältere Damen wieder herein. Er bot Ihnen Schutz. Unser Angebot: Tango und Swing, Foxtrott und Walzer, neben ofenfrischer Pizza, Bier und Bulette. Die jungen, hippen Leute sahen das, fanden’s toll und rannten uns die Tür ein. Alle suchten bei uns den Richtigen für den Abend.“
An der Außenwand des „Clärchens“, benannt nach Clara Bühler, die in der Kaiserzeit mit ihrem Mann das Tanzhaus 1913 eröffnete, hängt ein hellblaues Schild mit Herzen an der Fassade. Vor sieben Jahren, als alle Welt zum Besuch war, kam eine Schleife dazu: „Hundert Jahre Hochbetrieb!“ Der Spiegelsaal oben war immer ausgebucht, eine Drehkulisse für Hollywood-Blockbuster wie „Inglorious Basterds“.
„Er behandelte alle Menschen gleich“, erinnert sich Christian Schulz an Günter Schmidtke: „Er machte Witze mit Loriot, sprach mit Max Raabe oder Bundeskanzlerin Merkel wie mit unseren normalen Gästen.“ Günter war der bekannteste Pförtner der Stadt, auf einer Ebene mit Sven Marquardt aus dem Berghain.
Im vergangenen Jahr musste Schulz nach einem Streit mit seinem Theaterfreund und Kompagnon David Regehr seinen charaktervollen schwarzen Hut nehmen. Das historische Haus wurde an einen reichen Kulturunternehmer und Milliardärsspross verkauft. „Auch Günters Familie, seine Tochter Ilka, ihr Mann Lothar und sein Enkelsohn Max, auch an der Garderobe, mussten gehen.“
„Der Telesparjel“
Das Drama hatte Günter sehr mitgenommen, die Schließung setzte ihm zu, berichtet seine Tochter Petra. Er zog sich zurück in seine Platte. Da bot er mir Kaffee und Zigaretten an, ich brachte ihm Kuchen. „Dit da“, wies er von seinem Balkon über den Alex, „is der Telesparjel. Den hab ick mit jebaut“, erzählte er meinen Söhnen: „Etwa 31.000 Tonnen Zement ham wa jeschleppt.“
Als Rückzugsort hatte Günter immer seine Familie: vier Kinder, drei Enkel, sechs Urenkel. Seine Frau Margot starb vor einigen Jahren an Krebs. „Aba nur zu Hause hocken“, sagte er mir einmal, „dit is nüscht für mich. Da jeh ick ein.“ Fünf Mal kündigte er bei Christian Schulz, fünf Mal stellte der ihn wieder ein.
Das Dasein als Witwer, hinter den Geranien auf dem Balkon, das war nichts für Günter: „Ick sitz nich zu Hause und trinke vor ma hin, wie de andern. Ick muss ooch wat dazuverdien, weil ick bekomm nur ne kleene Rente. Und die Miete hier anner Karl-Marx-Allee schluckt allet uff.“
Gerne entspannte er beim Angeln, auf seiner Datscha mit seinem Enkel Max. 1993 entstand ein herrlicher Dokumentarfilm über Günters Leben: „Schmidtke, der Mann vom Alex“. 2014 befragte ich ihn für ein Porträt im niederländischen Fernsehen zum Thema 25 Jahre Mauerfall.
„Ein wichtiger Zeitzeuge“
Günter war nachdenklich, als wir auf den Alexanderplatz gingen: „Berlin, meene Jeburtsstadt, hat sich sehr jeändert.“ Nicht alle Veränderungen nach der Einheit fand er gut. Das große Kapital, die vielen Zugezogenen aus der ganzen Welt, das war nicht so sein Ding, und das machte er auch deutlich.
Als Kind gab es Pflichtschießen und Bombenangriffe, war er in der Hitlerjugend. „Da musst’n wa Sieg Heil brüllen.“ Im „Clärchens“ der Nullerjahre legte dagegen mein ungarischer Freund Charly jüdische Klezmer-Platten und Balkan-Beats auf. „Günter war ein wichtiger Zeitzeuge des letzten Jahrhunderts“, so Christian Schulz. Der alte Mann erinnerte mich daran, dass er in der DDR aufwuchs: „Stalins rote Ratten zwangen uns, die Faust stramm in die Luft zu halten. Sie wollten mit aller Gewalt gute Kommunisten aus uns machen.“
Günters Metier wurde jedoch Garderobier. „Den Anordnungen ist unbedingt Folge zu leisten“, steht auf einem Schild neben der Theke, wo Günter auf einem Foto mit den Händen ausgebreitet steht. Es ist das erste Bild im faustdicken Band von Marion Kiesow, einer viel verkauften Kulturgeschichte des „Clärchens“.
Günter bekam 1986 den Ehrentitel „Aktivist der sozialistischen Arbeit“, auch für seine „vorbildliche, aktive gesellschaftliche Arbeit“. In der Gesellschaft aktiv, das war Günter, ein Arbeiterkind. Ein Vorbild, das auch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn