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■ Die Schwäche der Kritik und die Harmlosigkeit des Guten provozieren die populär gewordene Wiederkehr des BösenBöses Ende. Guter Anfang

„Was wäre, wenn es nichts Böses mehr auf der Welt gäbe?“ Erschrockene Frage eines Kindes, dessen Eltern das „Böse“ aus ihrem Vokabular gestrichen haben. Das Allerweltswissen der Erwachsenen, jedes Elend habe seinen Grund in mangelhaften Verhältnissen, das schlaffe Psychologisieren beim Abendbrot. Verbrecher hätten halt eine schlimme Kindheit oder gar keine gehabt, diese Gemeinplätze abgesunkener Aufklärung machen weder hungrig noch satt und schon gar nicht klug. Und seit Gesellschaftskritik kein Medium mehr ist, in dem sich Subjekte aufs Handeln vorbereiten, dient sie nicht als Kontrastmittel, sondern als Weichzeichner. Sie hat ihre Schärfe verloren. Der gemeinsame Nenner des postkritischen Lamentos ist das Wort schlimm. Es markiert den Übergang zur neuen Harmlosigkeit. Die alten Kleider der Kritik von 68 werden inzwischen von der dritten Generation aufgetragen. Die Farben sind verblichen. Vor allem Schwarz – die Farbe, die Konturen gibt und Tiefenschärfe ermöglicht – fehlt.

Aber nun kehrt das Schwarze zurück. Das Böse hat Konjunktur. Ein spannendes Thema, denn es geht nicht nur um die Lust am Grauen, in der Renaissance des Bösen äußert sich auch die Lust am Einreißen der unerträglich fertigen Welt. Das Böse erinnert daran, daß Handeln ohne seinen Schatten nicht zu haben ist, und schließlich ist es auch eine Chiffre für Freiheit, denn es konfrontiert mit der Notwendigkeit, sich zu entscheiden.

Immer häufiger taucht der Signifikant in der letzten Zeit auf. Wer zum Beispiel vor Weihnachten in Hamburg den Kulturkalender aufschlug, dem begegnet das Böse gleich mehrmals. Die katholische und die evangelische Akademie tun sich zu einer Ökumene über das Böse im Film zusammen und zeigen alte und neue Horrorfilme in der Kirche. Im Theater gibt es das Böse für Kinder. Eine Fortsetzung des Kindermusicals „Arriman“ hat den bezeichnenden Titel: „Die Rückkehr des Bösen“. Für die Intellektuellen startet das Hamburger Literaturhaus eine große Serie von Vorträgen über das Böse. Den Anfang machte der Berliner Philosoph Rüdiger Safranski. Der Spiegel zieht sofort nach, interviewt Safranski zu seinem Buch über das Böse, das allerdings erst im September 1997 erscheinen wird, und setzt zu Weihnachten den Teufel aufs Titelbild. „Der göttliche Teufel“.

Ein anderes Beispiel ist Goldhagen. Weder die nicht so neuen Erkenntnisse seiner Forschungen noch sein vermißter theoretischer Weitblick können erklären, warum das Buch so erregte. Goldhagens Botschaft war simpel, aber eindeutig: Die Deutschen haben die Vernichtung gewollt, und zwar schon lange, basta. Damit hat er skandalisiert. Für einen Teil des Publikums war das eine Offenbarung: Es waren nicht die Verhältnisse, die gemordet haben, Menschen haben den Mord erst propagandiert und dann exekutiert. Dem Bösen auf der Spur stellt Goldhagen es in der antisemitischen Ideologie. Er lokalisiert es im Kopf der Geschichte.

So wird Goldhagen nach dem Auftauchen des Bösen gleich wieder harmlos und kann Publikumsliebling bleiben: Ist ja alles nur Geschichte, zudem längst vollendete und eine ohne Unterleib. Sie hat mit uns nichts zu tun. Deswegen hielt „der Goldjunge“ (Klaus Theweleit) mit seiner Botschaft den Schrecken in Grenzen. Theweleit hat darauf hingewiesen, daß sich Goldhagen nicht für die Täter interessiert. Täter wollen sich mit Gewaltakten wieder „heil“ machen. „Die Täter sind bei ihm die anderen, das unverstandene ,andere‘.“ Und Täter kann man nicht verstehen, ohne eine Verwandtschaft mit ihnen, und sei sie noch so minimal, zu erkennen.

Nachdem die Planstelle Feind 1989 vakant geworden ist, kommen wir um diese Entscheidung nicht herum: Das unverstandene andere erneut dämonisieren oder uns mit ihm befreunden, auch ohne es völlig verstehen zu können? Für die Dämonisierung des Bösen, um es schließlich bei anderen erneut zu installieren, kommt das Huntington-Modell vom unvermeidlichen Zusammenprall der unverträglichen Kulturen wie gerufen. Indessen ist das Wagnis, uns mit dem anderen, auch mit dem Bösen, anzufreunden, immer risikoreich. Aber diese kleinen Risiken sind der einzige Weg, die Aufladung großer Risikoreaktoren zu vermeiden. Die Entdeckung der Ambivalenz fällt uns theoretisch ja nicht schwer. Es wird darauf ankommen, endlich die schönen Theorien in die schmudlige Praxis zu entlassen. Bei der Entdämonisierung des Bösen müssen wir allerdings die Fiktion der Reinheit aufgeben. Diese Reinheit und der Hang, von uns selbst absehen zu wollen, gehören zu unseren sakrosankten Traditionen. Himmel und Hölle, Gott und Teufel werden eindeutig geschieden, egal welchen aktuellen Namen sie tragen.

So gesehen könnte die jetzt beginnende Debatte über das Böse ein Anfang sein. Ein gutes Zeichen ist, daß man sich daran erinnert, die Götter, die dem großen, monotheistischen Aufräumen vorausgingen, waren gut und böse. Sie konnten segnen und fluchen.

„Alles wird gut“, heißt die Parole unserer weltlichen Spätreligion, der Moderne. Alles wird gut, wenn erst die Hindernisse beseitigt sind, sei es der Kapitalismus oder ein anderer Feind. Unsere Tradition hat dazu die Kunst der kausalen Erklärung perfektioniert. Mit Erklärungen und Ursachen haben wir uns das Böse weit vom Leib gehalten. Ketten zur Erklärung von Ursachen für das Widrige führten es weit weg. Aber irgendwann erweist sich, daß wir uns selbst an diese Ketten von Kausalität und Determinismus gelegt haben. Dann tritt hinter der großen Beruhigung wieder das Unheimliche hervor, dann taucht das Böse auf.

Es mag ein Zufall sein, daß zugleich mit der Konjunktur des Bösen in den Diskursen allerorten philosophische Gesprächskreise mit Kindern von sich reden machen. Wenn der Berliner Pädagogikprofessor Hans Ludwig Freese zum Beispiel mit Kindern philosophiert, geht es bald um Gut und Böse. Kinder spielen den Gedanken durch, wie eine Welt aussehen würde, die das Böse erfolgreich abgeschafft hätte. Sie kommen bald darauf, wie grauenhaft sie wäre. Ein einziger, eisiger Stillstand. Das Leben würde erfrieren. Die Kinder erkennen, ohne das Böse gäbe es keine Entwicklung und nicht mal das Gute. Ein Mädchen aus der philosophischen Kindergruppe sagt am Ende einer Debatte über Gut und Böse: „Das Böse ist das Einseitige. Das Beharren auf einer Seite. Also, wer von sich sagt, er sei nur gut, ist schon wieder böse. Er sieht in sich das Böse nicht. Das Gute ist die Einheit von Gut und Böse.“ Reinhard Kahl

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