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Die Schule brennt

Wahlkampf mit Unterhosen oder: Die Finanz- und Publikumskrise im allerbesten Theater der Welt. Wie Hausherr Christoph Marthaler im Schauspielhaus Zürich Kunst und Gunst vereinen muss

von TOBI MÜLLER

Christoph Marthaler ist derjenige der großen Regiestilisten, der am wenigsten wie einer redet. Ein Intellektueller will er „nicht mal so sehr“ sein. Bücher über ihn sind Bilderbücher, Interviews mit ihm oft bloß sympathisches Geplauder. Die Bilder sagen aber wiederum mehr über seine Bühnenbildnerin Anna Viebrock aus, und im substanziellen Teil der Gespräche vermutet man stets die Denke seiner Dramaturgin Stefanie Carp. Zu dritt heißen sie künstlerische Direktion, seit sie vor anderthalb Jahren das Schauspielhaus Zürich übernommen haben.

Dort machen sie – mit vielen anderen – ein sehr aufregendes Theater, stecken aber bereits in einer erheblichen Finanz- und Publikumskrise. Und nur einem vergeht das Lachen dabei fast nie: Marthaler machte auch bei der lange erwarteten Publikumskonferenz diese Woche die besseren Witze als der etwas eitle, TV-gestählte Moderator. Er verstehe überhaupt nicht, was der Vorwurf „Unterhosentheater“ bedeute. Erstens trügen wir die doch alle, und zweitens sei man in seinen Inszenierungen lieber gleich ganz nackt. Marthaler überfordert als Theaterleiter jede Zuschreibung: kein Manager, kein Patron, der im Foyer Hände schüttelt, kein Revoluzzer und schon gar kein Pädagoge. Als Manager springt der scheidende Verwaltungdirektor Marcel Müller ein – oder sein schnittiger Assistent, der bereits wie ein strebsamer Kronzeuge spricht. Die Rolle des Patrons übernimmt zurzeit der Verwaltungsrat, denn das Schauspielhaus ist eine Aktiengesellschaft. Das erfährt man nie so klar wie in der Krise. Stefanie Carp muss derweil die Revolution in klugen, mit Marx gespickten Textmontagen durchführen. Ihre forsche hanseatische Art ließ die Schattenintendantin zudem etwas zur Buhfigur werden. Die Pädagogen schließlich, ja, das sind dann wir, die das „neue Theater“ in einer Stadt erklären müssen, die dieses bis dahin kaum kannte. Kein leichter Job, denn die Schule brennt.

Wer hat sie angezündet? Die Feuerwehr! Jene vierzig Prozent der Abonnenten, die ihr Abo gekündigt haben, werden nun angeschrieben, ihr Haus doch bitte wieder zu retten. Oder war’s doch der lange Mann aus Deutschland im feuerroten Gewand? Christoph Schlingensiefs „Hamlet“ und seine Straßenaktionen im letzten Frühsommer rund um die zu resozialisierenden Neonazis mag für 17 ausverkaufte Vorstellungen und viel Stadtgespräch gesorgt haben. Leider aber auch für eine massive Einschüchterung vieler Abonnenten, ohne die das Schauspielhaus nicht überleben kann. Erst recht nicht in Zeiten der Expansion: Mit Marthalers Amtsantritt wurden auch das ursprünglich als reines Werkzentrum geplante Schiffbau-Areal im trendigen Westquartier in Betrieb genommen, das mittlerweile zum Standortfaktor Kulturzentrum angewachsen war. Die darin untergebrachte große Schiffbauhalle und die Nebenbühne „Box“ erweiterten die Kapazität für das Schauspielhaus massiv. Weitab vom alten Stammhaus, dem Pfauen, entstand so ein angesagter Ort für eine nachrückende Generation von Theaterbesuchern, die ihr Vergnügen nicht ein Jahr im Voraus planen.

Doch genau die Trennung zwischen konservativem Pfauen und trendigem Schiffbau wollte die Intendanz Marthaler vermeiden. Die erste Pfauensaison eröffnete man bewusst zeitgenössisch mit Mark Ravenhills „Polaroids“ in der Regie des jungen Falk Richter. Später legte man das Technoendspiel „Rave“ von Rainald Goetz nach. Die Lunte glimmte bereits, bevor Schlingensief, ebenfalls im Pfauentheater, mit seinem „Hamlet“ den Zürchern die Hölle richtig heiß machte. Am heftigsten irritiert waren die treuen Schauspielhausgänger aber über die Premierenverschiebungen und andere organisatorische Engpässe der beinahe hysterisch produzierenden Crew. Gerechterweise sei gesagt, dass einiges zeitlich zu knapp und inhaltlich zu lakonisch kommuniziert wurde.

Allerdings gerät in der Schweiz jedes Problem ziemlich rasch zum reinen Kommunikationsproblem. Oder wie ist es inhaltlich zu erklären, dass in der zweiten Saison dem Bildungsbürger wohlgesinnte Regisseure wie Luc Bondy oder Werner Düggelin den Pfauen nicht zu füllen vermögen? Weshalb beschweren sich Exabonnenten über das, von dem sie glauben, dass es die Direktion über sie denken würde – nämlich dass die Leitung das Publikum nicht ernst nähme? Leider ist die Sache noch viel komplizierter als solche Sätze, wenn auch ein bisschen weniger spekulativ. Denn in Zürich herrscht seit einem halben Jahr Wahlkampf, die Gemeindebehörde sowie der Stadtpräsident und Kulturdezernent in einer Person werden im März neu gewählt. Dass der Schiffbau, wer hätte das gedacht, elf Millionen Franken teurer als geplant zu stehen kam, die Zuschauerzahlen aber vorrangig im Pfauen drastisch gesunken sind, das wird nun alles fröhlich durcheinander gebracht. Der populistische rechte Rand, die Schweizerische Volkspartei (SVP), schreit zudem wacker „Porno-“ oder eben „Unterhosentheater“ – das Projekt Marthaler und Schiffbau wäre ohne die Sozialdemokratie nie realisiert worden, darum geht es – und annektiert die vemeintlichen Interessen des ominösen Abonnenten. Statt sich von dieser krassen Instrumentalisierung zu befreien, genießt der Abonnent aber lieber das Rampenlicht und tut bisweilen das, was das Zürcher Bürgertum seit fünfzig Jahren öfter tut: ein bisschen Geschichte klittern.

Es war kein Versprecher, als die durchaus sympathische ältere Frau in der Publikumskonferenz die Direktion um mehr Verständnishilfen bat und zugab, auch sie denke oft an das „Emigrantentheater“ der Fünfzigerjahre. Ab 1933 war das Schauspielhaus Zürich eine Wirkungsstätte für Emigranten, in den Fünfzigern konnte davon aber keine Rede mehr sein. Was dann einsetzte, war vielmehr die nachträgliche Verklärung des zu seiner Zeit höchst umstrittenen Theaters. Das schreibt sich fort: Der Abonnent hat den Pfauen seither immer eher geduldet als geliebt. Diese etwas blasierte Reserviertheit könnte Marthaler nun tatsächlich auch noch die Unterhosen runterziehen.

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