Die Rück-Vorschau: Kunstgenuß als Rasterfahndung im Kopf
■ Ein Lob auf das Nichtverstehen: Im Vegesacker KITO wird in den nächsten Monaten über menschliche Wahrnehmung referiert
Erleichterung. Wir sind nicht allein. Offensichtlich teilen viele Menschen das Gefühl, nicht zu wissen, was sie tun, meinen, empfinden. Jedenfalls treibt sie ein abgrundtiefes Klärungsbedürfnis in Vorträge über all die herrlichen Alltäglichkeiten in uns: das Fühlen, das Denken, das Lieben. Ahnungslosigkeit quält die Menschen im allgemeinen, die Vegesacker im besonderen. Durchschnittlich 161,2 Stück von ihnen strömten in den letzten Jahren zu den 36 KITO-Kolleg-Abenden. Diese bemühen sich in diesem Jahr um das Thema Wahrnehmung. Helmut Reuter, Professor in Münster, machte den Anfang mit der „Wahrnehmung von Kunst“. Man muß den Professor lieb haben. Im Jahr 1997 nach Christus zitiert er Adorno – aus der „Ästhetischen Theorie“: Kunst untersucht man, um einen „Wahrheitsgehalt“aus ihr zu destillieren, also verborgene Nachrichten über die Gesellschaft und uns selbst in Empfang zu nehmen. Würde man sie aber reduzieren auf „ein Bündel unqualifizierter Stimulie“– Kunst als fun – „behielte man ein Dünnes zurück“.
Auf der Basis dieses zutiefst aufklärerischen Anliegens nähert sich Reuter seinem Objekt phänomenologisch. Statt zu fragen „Was ist ein Kunstwerk?“untersucht er „Wie sieht es aus, wenn es in unserem Bewußtsein gelandet ist?“und stellt fest, daß es sieben Rasterfahndungsmustern unterworfen wurde: Darunter denen der Gesetzmäßigkeit, Eigenständigkeit, Vollständigkeit. Auch ein chaoslüsternes Jackson-Pollock-Dripping dreht und wendet Reuter, bis es seine Kriterien erfüllt. Fast vergewaltigend.
Als hermeneutisch geschulter Mann betont er natürlich, daß wir nur das erkennen können, was schon in uns drinnen ist. Für Reuter aber kein Grund zur Trauer. Im Gegenteil. Gerade das Nichtverstehen versteht er als eine große Chance; macht es uns doch aufmerksam auf die Begrenztheit unserer Vorerwartungen. Die bösen Reaktionen Ende der 60er Jahre auf das öffentliche Pinkeln der Nitsch-Mühl-Brus-Clique zum Beispiel haben einer Gesellschaft ihre Angst vor allem sogenannten Kreatürlichen vor Augen geführt. So versucht Reuter, auch die Wiener Aktionisten einzugemeinden in die Zunft der Aufklärer. Ihre ans Unbewußte gerichteten Mysterienspielereien sollen in Wahrheit Selbsterkenntnis, Vernunft, Einsicht weitertreiben. Halb rührend, halb beeindruckend: Ausgerüstet mit achtbaren altmodischen Positionen beweist Reuter echte bürgerliche Toleranz gegenüber den schrägsten, avantgardistischsten Bewegungen, die sich den Bruch bürgerlicher Ordnungen auf die Fahne geschrieben haben. Viele kunterbunte Funktionen von Kunst gehen Reuters Ansatz aber durch die Lappen: Die Kunst des Fußballens konstituiert Gruppengefühl und Techno sucht die Trance. Hat alles wenig zu tun mit Gesetzmäßigkeit und Vollständigkeit.
En passant hieß es, daß auch die Wahrnehmung ökonomischen Prinzipien gehorcht. Im Straßenverkehr unterteilen wir die Wirklichkeit streng auf in Rot, Gelb und Grün und verzichten darauf, „die kristallinen Strukturen des Ampelglases“anzuhimmeln, ganz einfach „um über die Runden zu kommen.“Wir entscheiden uns zum Wahrnehmungsluxus, bewundern Ampelkristalle, knallen deshalb gegen den nächsten Laternenpfosten und gehen – wenn wir uns wieder erholt haben – zum nächsten KITO-Kolleg. bk
heute, Donnerstag, um 20 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen