: Die Republik webt
In der Ausstellung „Extra Large. Tapestries from Picasso and Le Corbusier to Louise Bourgeois“ in der Kunsthal Rotterdam geht es um die Moderne, aber auch um nationale Repräsentation und die Verehrung falscher Helden
Von Susanne König
Tapisserien waren schon immer Distinktionsmittel in der Repräsentation staatlicher Macht. Die Ausstellung „Extra Large“ in der Kunsthal Rotterdam belegt, dass sich dies bis heute nicht geändert hat. Die Ausstellung, die zuvor unter den Titeln „Au fin du siècle“ und „Die Fäden der Moderne“ in Paris beziehungsweise in München gezeigt wurde, präsentiert Tapisserien der letzten einhundert Jahre (1918–2018) der ehemaligen Königlichen Tapisserie-Manufakturen des Gobelins, de Beauvais, de la Savonnerie und d’Aubusson. Mit der Auflösung der Monarchie sind diese französischen Luxusobjekte nicht verschwunden, sondern stehen nun der Französischen Republik zur Repräsentation zur Verfügung. Sie werden heute mit anderen Möbeln in der 1936 gegründeten staatlichen Einrichtung „Mobilier national“ aufbewahrt, um damit die Palais des französischen Präsidenten und anderer wichtiger Staatsinstitutionen auszustatten.
Während ältere Tapisserien der königlichen Manufakturen, die unter Heinrich IV. im Jahr 1608 gegründet wurden, vielen Besuchern bekannt sind, bietet diese Ausstellung einen guten und erstaunlichen Überblick über die eher unbekannte Entwicklung der letzten einhundert Jahre. Die chronologische Hängung beginnt mit Werken, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden und insbesondere die französische Nation und Identität zum Ausdruck bringen. So deuten die idealisierenden Landschaftsbilder auf Edmond Yarz’ acht Meter breitem Teppich „Die Pyrenäen“ (entworfen 1917, gewebt 1924) aus der Serie „Provinzen und Städte Frankreichs“ weder auf ein vom Krieg gebeuteltes Frankreich noch auf die voranschreitende Industrialisierung hin. Stattdessen wird das als Triptychon angelegte Bild heiler französischer Landschaft gar von einer Trompe-l’œil-Bordüre geziert.
Zum Ruhme Marschall Pétains
Auffallend ist, dass nicht nur Glanzlichter der französischen Geschichte ausgestellt sind. Paul Charlemagne etwa zeigt auf seinem Teppich „Zum Ruhme Marschall Pétains oder die Nationale Revolution“ (1942–43) den Personenkult um Philippe Pétain, der durch seine Abwehrerfolge in der Schlacht um Verdun zum Nationalhelden wurde. Ganz in diesem Sinne wird er auf der rechten Seite des Teppichs besonnen inmitten eines Granatenhagels dargestellt. Links hingegen ist er als greiser Staatschef des Vichy-Regimes zu sehen, der die französischen Soldaten dazu auffordert, ihre Waffen niederzulegen und sich um die Ernte zu kümmern. Pétain, der 1945 wegen seiner Kollaboration mit den deutschen Besatzern zum Tode verurteilt wurde, fordert statt Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nun Arbeit, Familie und Vaterland. Trotz des reaktionären Bildinhalts wirkt das Werk durch seine expressive Farbgebung und seine abstrakte Formensprache modern.
Dass die Ausstellung auch die Produktion der deutschen Besatzer nicht ausklammert, verdeutlicht die 72,2 Quadratmeter große Tapisserie „Die Erdkugel“, die auf einem Entwurf von Werner Peiner basiert und mit deren Umsetzung Hermann Göring die Gobelinmanufaktur schon 1940 beauftragte. Die Arbeit, von der bei Kriegsende lediglich die linke Hälfte vollendet war, zeigt die Weltkugel mit einem Symbolband aus Tierzeichen. Umgeben ist sie von den mythologischen Figuren des Apollons, der Venus und der Justitia, die mit ihrem Schwert auf Großbritannien zeigt und so die bevorstehende Bestrafung des letzten europäischen Staats ankündigt, der sich gegen die deutsche Kriegsmaschinerie wehrt und somit – unter Verdrehung der Tatsachen – die Deutschen zur Invasion zwingt.
Die Ausstellung präsentiert somit einen vernünftigen Umgang mit Werken, die kontrovers die eigene französische Geschichte sowie die des deutschen Nationalsozialismus thematisieren und traut dem Besucher dabei einen kritischen Umgang mit solchen Werken zu.
Nach dem Zweiten Weltkrieg fordert die „Mobilier national“ die Umsetzung von Konzepten, die außerhalb der akademischen Tradition stehen, und die Moderne hält auf den Wandteppichen Einzug. In den 1950er bis 1970er Jahren werden Tapisserien von Henri Matisse, André Masson, Raoul Dufy, Fernand Léger oder auch Joan Miró angefertigt, wobei auffällt, dass viele Entwürfe aus der Zwischenkriegszeit stammen. So beginnt die Nachkriegszeit erst einmal mit der Moderne dieser Zeit, ein Phänomen, das vielfach beobachtet werden kann.
Erst in den 1970er Jahren tritt mit dem Op-Art-Künstler Victor Vasarely und dem Informel-Künstler Hans Hartung auch die Abstraktion als Gestaltungsmerkmal auf. „Es riecht gut“ (1975) von Gérard Schlosser zeigt ausschnitthaft eine liegende Frau vor einem Citroën 2CV und greift damit fotorealistische Motive auf. Dass fotografische Vorlagen nicht nur analog, sondern auch digital sind, zeigt „Der Garten der Gobelins“ (2001–2012) von Christophe Cuzin, dessen grobes Pixel-Bild erst mit dem nötigen Abstand lesbar wird.
Den Abschluss macht „Entstellung – Refiguration, Proto-Kolumbianisch, Selbst-Hybridisierung, Nr. 4“(1998–2016) von Orlan, ein deformiertes, am Computer verfremdetes Selbstporträt, mit dem die feministische Künstlerin, die an sich selbst weitreichende chirurgische Eingriffe vornehmen ließ, das westliche Schönheitsbild der Frau hinterfragt. Der Teppich kann von beiden Seiten betrachtet werden – so lässt auch die Rückseite mit ihren unzähligen herunterhängenden Fäden noch das Porträt der Künstlerin erkennen.
Die Ausstellung bietet somit nicht nur einen interessanten Überblick über die vielfältigen Stile der Tapisserie-Kunst des 20. Jahrhunderts, sondern auch einen tiefen Einblick in die Geschichte der (dritten bis fünften) Französischen Republik sowie den Wandel der Kunst als Mittel staatlicher Repräsentation.
Bis 3. Januar 2021, Kunsthal, Rotterdam
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