: Die Regenwegmacher
aus Gotha PHILIPP GESSLER
Da war zum Beispiel die Sache mit dem Regen: Auf dem Boxberg, dieser Anhöhe bei Gotha, habe es vor zwei Jahren wie aus Kübeln geregnet, erinnert sich Tom. Nur über der Hauptbühne, wo sie zusammen gebetet hätten, da habe die Sonne geschienen: „War so geil!“, sagt der 22-Jährige mit aufgerissenen Augen. „Ich merke, dass Gott hier ist.“ Der Glaube ist eine Gnade, meint Paulus.
Tom ist Jesus Freak – und sitzt auf der Decke eines Punkerpärchens auf dem Gelände der Galopprennbahn aus der Jahrhundertwende neben seinesgleichen. „Freakstock – The Jesus Festival“ heißt das Ereignis, das dieses Jahr und bis gestern in der Thüringer Stadt stattgefunden hat. Laut Eigenwerbung ist es das „größte, fetteste, alternative heartcore Open-Air-Festival Europas“. Einschließlich öffentlicher Taufen im Wasserbassin.
Rund 5.000 vor allem 20- bis 30-Jährige sind zusammengekommen, der Eintritt hat pro Person 55 Euro gekostet. Viele tragen Piercings, die Haare bunt oder ausrasiert und eine Menge Tattoos. Jesus Freaks definieren sich in ihren eigenen Schriften als „schrill und laut“, wollen vor allem die Außenseiter der Gesellschaft ansprechen. Seit 1995 treffen sie sich jährlich auf dem Boxberg zum „Freakstock“-Festival.
„Jesus, UR the answer 4 my life, I need U every day!“ ist das Motto dieses Jahr – es hängt als Spruchband über der Hauptbühne. Gerade findet dort ein dreistündiges Seminar zum Thema „Müde Menschen munter machen“ statt. Fünf junge Prediger lassen sich, wie sie sagen, „irgendwie“ und „echt“ und „geil“ und „ey!“ vom Heiligen Geist inspirieren, sie beten abwechselnd am Mikrofon. „Für Gott ist es voll cool, was du in deinem Leben schon gemacht hast“, hört man einen rufen. Ein anderer mahnt, „sich die Bibel reinzuziehen ohne Ende“. Ein dritter Redner extemporiert: „Lass echt den Heiligen Geist dein Herz checken.“
Ein passendes Äußeres ist im „Freakstyle“-Zelt zu haben. Neben hunderten von Predigtkassetten finden sich im „official Jesus Freaks Shop“ Anstecker mit dem Hauptsymbol der Jesus Freaks: dem Alpha-und-Omega-Zeichen. Die Buchstaben sind ineinander verschränkt: gemäß der Schrift, die sagt, dass Jesus Anfang und Ende der Welt sei. Angepriesen werden Baseballcaps mit Dornenkronenaufdruck. Zwei Mädels begutachten sich im Spiegel mit Kapuzenpullovern und Standard-T-Shirts, auf denen „Praise the Lord“ oder „Jesus Terror Force“ steht.
Die Frömmigkeit wird offensiv demonstriert, es ist alles cool und richtig fett. Abends spielen während der vier Tage insgesamt 60 Bands auf 5 Bühnen. Die Reden der Prediger auf der Bühne sind unterlegt mit einem leise groovenden Chill-out-Soundteppich. Vor der Hauptbühne sitzen und stehen die Festivalbesucher, meditierend, betend, konzentriert. Manche haben eine Hand zum Himmel erhoben. Einige berühren mit einer Hand einen anderen Menschen und beten für ihn. Vier Mädchen haben sich pärchenweise in eine Ecke rechts vor der Mainstage zurückgezogen. Sie umarmen sich, zwei von ihnen weinen vor sich hin. Manchmal weht ein sanft fundamentalistischer Hauch über den Boxberg. Dennoch hat vieles den lässigen Charme coolen HipHops.
Der Boxberg ist das Lourdes der Jesus Freaks. Und wie im französischen Wallfahrtsort der Marienverehrer, der Kranken und der Alten geschehen auch auf dem Boxberg Wunder, wie Tom erzählt: etwa das seiner Wandlung vom „Fascho“ zum Jesus Freak. Tom, früher Naziskin, versuchte vor zwei Jahren eines Abends, braune Kameraden zusammenzutrommeln – vergeblich –, und so wollte er allein ein Konzert von „Christcore“, einer Band aus Celle, aufmischen. Da habe der Bassist mit ihm geredet, ihn am nächsten Tag zum Freakstock-Festival geschleppt, obwohl Tom ihn warnte: „Wenn du mich bekehren willst, gibt’s eins aufs Dach.“ Dort habe der Bassist ihm die Hand aufgelegt, versichert, es gebe keine „Homohintergedanken“, und für ihn gebetet. Dabei habe er, Tom, bis zum „Amen“ des Bassisten, dem Schluss des Gebets, heftig gezittert: „Alter, was geht?“ Als Zeichen seiner Erweckung hätten sie schließlich gemeinsam sein „White Power“-T-Shirt zerrissen.
Isa neben ihm auf der Decke im Schatten kann ähnliche Geschichten erzählen: „Ich hasse das Wort ‚Zufall‘ “, sagt sie. Die 19-jährige Abiturientin macht gerade ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Altenpflege und ist eine klassisch gestylte Punkerin mit Springerstiefeln und rot-grünem Haar. Sie sei in einem christlichen Elternhaus aufgewachsen, ihr Großvater evangelischer Pfarrer. Lisas Ansatzpunkt ist intellektueller, kirchenkritischer. Sie stören die alten, oft verknöcherten Formen in den großen Kirchen. Mit ihrem Outfit war sie in ihrer sächsischen Dorfgemeinde Außenseiterin. Ebenfalls eine Außenseiterin sei sie unter anderen Punkern gewesen. Das habe sie aber „’nen Scheißdreck interessiert“. Wenn ein Punk sie jetzt anmache, ob sie Christin sei, sage sie nur: „Und?! Problem damit?“
Nein, alles cool hier, Probleme hat niemand – oder doch? Mirko Sander ist seit zehn Jahren Jesus Freak und einer der Hauptorganisatoren des Festivals. Wenn der 28-Jährige aus Hamburg auf der Haupttribüne der Rennbahn mit Blick über die Berge etwa über „Sex vor der Ehe“ oder „Homosexualität“ spricht, wird alles kompliziert, gibt es plötzlich „gewisse Schwierigkeiten“. Knutschende Paare sind auf dem Gelände kaum zu sehen, freie Liebe wie den Legenden nach in Woodstock ist auf dem Festival nicht angesagt. Geliebt wird hier vor allem Jesus.
Unten in der Stadt zeigen die beiden Messdiener Daniel und Sebastian, beide 20 Jahre alt, den eher düsteren Jugendsaal der St.-Bonifatius-Kirchengemeinde. Die beiden Katholiken waren noch nie auf dem Festival oben auf dem Berg, beschreiben es aber leicht abschätzig als „Hippieveranstaltung“, die sie nicht besonders reize. Nein, ausgeflippt sind sie nicht, eher ernst, sanft ironisch. Die angehenden Studenten in ihrer unauffälligen Kleidung geben sich alles in allem zufrieden mit den alten Formen der katholischen Kirche. Ein wenig brav wirkt das, und da passt es ins Klischee, dass Sebastian erzählt, er gehe jeden Sonntag in die Kirche und wolle „dann auch Dienst am Altar machen“.
Das Klischee zerbricht schnell, denn Daniel erscheint etwa bei den Themen vorehelicher Sex und Homosexualität progressiver als der Jesus Freak Mirko auf dem Boxberg. Sex vor der Ehe? „Muss jeder für sich selbst entscheiden“, meint Daniel knapp. Homosexualität? Wer dazu neige, solle es halt machen. Der Papst hat dazu andere Ansichten. Aber wenn Jesus Christus in offiziellen Broschüren von Jesus Freaks International als „Rockstar der Rockstars“ bezeichnet wird – was ist dann der greise Karol Wojtyła, der beim Weltjugendtreffen in Toronto vor knapp zwei Wochen von über 600.000 Jugendlichen mal wieder wie ein Popstar gefeiert wurde?
In den Gemäuern eines früheren Augustinerklosters riecht man die Jahrhunderte, die die großen Kirchen mit sich herumschleppen. Über einem mittelalterlichen Kreuzgang sind junge Leute der evangelischen Jugendarbeit Gotha zusammengekommen – nur die Hälfte von ihnen ist getauft, stellt sich heraus. Von Frisur und Kleidung her würden sie auf den Boxberg passen. Während dort aber dauernd öffentlich und laut gebetet wird, schweigen die Jugendlichen hier erst einmal beschämt, wenn man fragt, wie oft sie beten.
Andreas, ungetauft, verfilzte blonde Locken, langes Ziegenbärtchen, sagt stockend, er bete meist nur, wenn es ihm dreckig gehe. Dafür, dass er dies nur in solchen Situationen tue, „schäme ich mich fast“. Keiner von ihnen war in den vergangenen Jahren auf dem Festival – schon wegen des Eintrittspreises. Aber Erfahrungen mit den Freaks gebe es: Andreas erzählt, er kenne eine Wohngemeinschaft von Jesus Freaks in Berlin. Da laufe etwa in Sachen Sex wenig, alles gehe nur „nett und kameradschaftlich“ zu.
Die evangelische Jugendarbeit Gothas tut sich eher schwer damit, junge Leute für die Sache des Glaubens zu begeistern. Der Jugenddiakon Michael Seidel, 31 Jahre alt, sagt, durch die offene, wenig fordernde Art, an Jugendliche heranzugehen, bestehe schon die Gefahr, dass am Ende womöglich gar niemand mehr komme. Ihm imponiere „das Verbindliche“ bei den Jesus Freaks. Etwas Sektiererisches kann er an denen nicht finden: Schon die Möglichkeit, leicht in die Jugendbewegung ein- und wieder auszusteigen, spreche dagegen.
Wollen junge Leute bei den letzten Fragen und der Sache mit Gott mehr gefordert werden, als tolerante Jugendpfarrer glauben? Ist wirklich nur das flippige Auftreten der Grund, weshalb die Jesus Freaks gut ankommen? Und wie freakig war eigentlich Franz von Assisi, der mit Vögeln gesprochen haben soll? Wie cool Jesus?
Es ist Nacht geworden, auf der Hauptbühne und von den vier anderen Bühnen auf dem Boxberg dröhnt Musik. Auf der „X-Stage“ verabschieden sich HipHopper mit „massive respect und Gottes Segen“. Eine Band spielt „NewMetal“, von den Texten ist kaum mehr als ein Röhren zu verstehen. Später betet, umgeben von etwa zwanzig anderen Gläubigen mit geschlossenen Augen, ein Mädchen zehn Minuten laut und stockend um einen Schub bei den Schweizer Jesus Freaks. Ein Freak aus Locarno bittet den Herrn in italienischem Englisch auf der Bühne für einen Freund, der wegen Magenproblemen nicht hierher kommen konnte: „Bless his stomach“, sagt er, fast alle beten mit, niemand lacht.
Gebete können müde machen. Am Ausgang des Geländes läuft Tom. Ja, sicher, räumt er ein, nachmittags habe es gestern auch vor der Hauptbühne geregnet. Aber dann habe er mit seinen Kumpels gebetet: Es sei ja schließlich sein eigenes Festival, hätten sie gesagt. Dennoch habe es weitergeschüttet, erzählt Tom. Dann habe er noch mal, leicht verärgert, mit dem Herrn geredet: „Jesus!“, demonstriert er mit hochgezogenen Augenbrauen. Keine Minute später habe der Regen aufgehört! „War krass geil.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen