■ Rezension
: „Die Rache Gottes“

Die siebziger Jahre waren für das Verhältnis von Religion und Politik ein Jahrzehnt des Umbruchs. Nachdem mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Politik endgültig ihre Unabhängigkeit von der Religion errungen zu haben schien, setzte etwa 1975, so Gilles Kepel in seinem Buch „Die Rache Gottes“, auf breiter Front eine Gegenbewegung ein. Ein neuer religiöser Gedankenaustausch bildet sich heraus, der sich nicht länger an weltlichen Wertvorstellungen orientiert, sondern die Gesellschaftsordnung durch eine längst überfällige Umgestaltung wieder auf eine sakrale Grundlage stellen will. So die gemeinsame Auffassung von islamischen, jüdischen und christlichen Bewegungen, die Gilles Kepel analysiert. Bei der Darstellung der Reislamisierungswelle stützt er sich vor allem auf das Gedankengut von Sayyid Qutb, dem ideologischen Kopf der „Muslimbrüder“. Seine Schriften und Kommentare zum Koran bilden die Grundlage für die Errichtung einer islamischen Gesellschaft, die streng nach der Scharia aufgebaut sein soll. Demnach muß der wahre Moslem mit Jahiliyya brechen. Die Jahiliyya steht für die gottlose, säkulare Gesellschaft, die nicht den einen und einzigen Gott verehrt, sondern einen Despoten oder eine Gruppe von Menschen, die sich die göttliche Souveränität anmaßt. Diese Machtelite gehorche allein ihrer Willkür.

Hier genau setzt Kepel die Parallelen zur Rechristianisierung und Rejudaisierung an: Allen religiösen, fundamentalistischen Bewegungen ist gemeinsam, daß sie den Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche ablehnen. Hierbei ist bemerkenswert, daß die Errungenschaften der Aufklärung dafür verantwortlich gemacht werden. Die Aufklärung wird in fundamentalistischen Kreisen als höchster Ausdruck des menschlichen Hochmuts, der die Vernunft aus ihrer Bindung an den Glauben herauslösen möchte, betrachtet. Im Zusammenhang mit der Reislamisierungswelle geht er neben den Muslimbrüdern auch auf den zunehmenden Einfluß der Front Islamique de Salut in Algerien und die Entwicklung im Iran ein.

Bei der Darstellung der Rechristianisierungswelle beschränkt sich Kepel nicht nur auf Europa. Neben der Betrachtung der italienischen Laienbewegung „Comunione e liberazione“ und der Rolle der polnischen Kirche in Osteuropa findet sich eine Schilderung der religiösen Bewegungen in den USA.

Für den Prozeß der Rejudaisierung macht Kepel in erster Linie die „Gush-Emunim-Bewegung“ verantwortlich. Diese Bewegung setzt sich neben den ultra-orthodoxen Gruppen für die Überwindung des säkularen Zionismus ein. Die Gush-Emunim errichtete in den besetzten Gebieten zahlreiche Siedlungen und beruft sich dabei auf den biblischen Begriff „Land Israel“.

Gilles Kepel geht bei seiner Studie davon aus, daß die behandelten religiösen Bewegungen keinesfalls das Produkt einer fehlgesteuerten Vernunft sind, sondern das authentische Zeugnis eines tiefreichenden gesellschaftlichen Mißstandes. „Die Rache Gottes“ ist ein gelungenes Buch, das die zunehmende Bedeutung der Religion in allen politischen Kontexten genauestens herausarbeitet. Es zeigt, an welchen Schwachstellen der Gesellschaft und des politischen Systems die Religion ansetzen und die Macht erlangen kann.

Hakan Songur

Gilles Kepel: „Die Rache Gottes“, Piper-Verlag