: Die Queen war gemütlicher als Li Peng
Ein Jahr vor der Eingliederung in die Volksrepublik China ist die öffentliche Meinung Hongkongs gespalten. Arbeiter und Frauen fürchten Peking, während die Unternehmerschicht sich auf ein gutes Geschäftsklima freut ■ Aus Hongkong Sven Hansen
„Für uns Arbeiterinnen wird die Zeit nach dem 1. Juli 1997 noch schwieriger werden“, sagt Lo Yan Tei. Die 38jährige hat als Angelernte 20 Jahre im Hongkonger Industrieviertel Kwun Tong gearbeitet. Begonnen hat sie in der Perückenproduktion, dann arbeitete sie in einer Elektronikfirma und anschließend in der Bekleidungsindustrie. Zuletzt nähte sie in Heimarbeit Kragen und Hemden zusammen, die in China vorproduziert wurden. Vor drei Jahren verlagerte ihr Betrieb die Fertigung ganz in die Volksrepublik. Heute zählt die arbeitslose Mutter von zwei Töchtern auf dem Hongkonger Arbeitsmarkt zum alten Eisen. Die Aussichten auf einen regulären Job sind gleich Null. „Wenn ich bei einer Stellenausschreibung mein Alter nenne, bekomme ich nicht einmal einen Bewerbungsbogen“, klagt Lo. „Wenn Hongkong unter chinesische Souveränität kommt, werden noch mehr Menschen aus der Volksrepublik hierherziehen. Auf dem Arbeitsmarkt wird es dann noch enger.“
Lo beklagt den Konkurrenzdruck der 200.000 asiatischen ArbeitsmigrantInnen, die bereits in Hongkong leben, und der 57.000 ChinesInnen, die jährlich legal nach Hongkong einwandern. Und seit 1988 gingen in Hongkongs verarbeitender Industrie 446.000 Arbeitsplätze durch Betriebsverlagerungen nach China verloren. Während sich die frühere Billiglohnkolonie im Zuge der Deindustralisierung zur hochentwickelten Dienstleistungsmetropole wandelte, arbeiten in den angrenzenden Regionen Südchinas mittlerweile drei Millionen Menschen für Hongkonger Firmen.
Auf der Strecke blieben in Hongkong vor allem unqualifizierte IndustriearbeiterInnen. Sie können mit den niedrigen Löhnen in China nicht mithalten, sind aber mit den hohen Lebenshaltungskosten in Hongkong konfrontiert. Besonders schwer haben es Arbeiterinnen über 35.
Billiglohnland China gegen Standort Hongkong
Die Deindustrialisierung und ein auf 5 Prozent gesunkenes Wirtschaftswachstum ließen Hongkongs Arbeitslosenrate im letzten November auf offizielle 3,6 Prozent ansteigen, das höchste Niveau seit elf Jahren. Das ist wenig im internationalen Vergleich, aber in Hongkong gibt es keine Arbeitslosenversicherung. Und Arbeiterinnen wie Lo Yan Tei, die nach dem Verlust ihrer Jobs zu Hausfrauen werden, tauchen in der Statistik gar nicht auf.
„Die Politik, die ab Mitte 1997 zu erwarten ist, wird vor allem zum Vorteil der Großunternehmer sein. Denn sie dominieren das von Peking eingesetzte Vorbereitungskomitee“, sagt die Sozialarbeiterin Linda To, die sich um arbeitslose Frauen wie Lo Yan Tei kümmert. Die Regierung in Peking und Hongkongs Wirtschaftselite arbeiten bei der Übergabe der Kolonie eng zusammen. „Wir Geschäftsleute sind sehr optimistisch“, sagt denn auch Henry Tang vom Industriellenverband. „Der Handel und die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen China und Hongkong werden stark wachsen, weil wir zu einem einzigen Land werden.“ Von Tangs 13.000 Beschäftigten arbeiten bereits heute 12.000 in der Volksrepublik.
Die Wirtschaftsbosse sehen enge wirtschaftliche Verflechtungen als Garantie, daß China schon aus Eigeninteresse am ökonomischen Erfolg Hongkongs interessiert ist. Hongkongs Großunternehmer, die bereits unter den Briten ohne Demokratie zu Millionären geworden sind, halten wenig von Londons halbherzigen Versuchen, die Kolonie im letzten Moment zu demokratisieren. Dies belaste nur die Beziehungen mit China. Die von Gouverneur Chris Patten eingeführten Wahlreformen hätten zudem nur dazu geführt, daß mehr Gewerkschafter im Parlament sitzen. Das müßte sich jetzt mehr mit Arbeitnehmerfragen beschäftigen, statt sich um Wirtschafts- und Technologiepolitik zu kümmern, meint James Tien, der Vorsitzende der Handelskammer und Abgeordnete der Liberalen Partei.
Diktatur China gegen Halbdemokratie Hongkong
Doch Hongkongs Demokratiebewegung ist auch von London enttäuscht. „Die demokratischen Reformen kamen viel zu spät und waren nicht umfassend genug“, sagt der Historiker Ming Chan. Ho Hei Wah von der regierungsunabhängigen Menschenrechtskommission verweist darauf, daß in den letzten Jahren nur wenige der repressiven Kolonialgesetze abgeschafft worden seien. Sie wurden zwar in letzter Zeit kaum noch angewendet, aber es ist zu befürchten, daß sich das in Zukunft ändern könnte. „Wir Bürger Hongkongs fühlen uns von Großbritannien im Stich gelassen, weil London uns nicht einmal vollwertige britische Pässe gegeben hat“, sagt die Abgeordnete Lau. „Wir hatten unter Großbritannien nie Demokratie, aber wir genießen gewisse Freiheiten. Bei der chinesischen Regierung sehe ich dagegen keine Anzeichen, daß wir Freiheit und Demokratie bekommen werden.“ Die chinesische Führung hat angekündigt, den erstmals vollständig gewählten Legislativrat von Hongkong durch ein pekingfreundliches Übergangsparlament zu ersetzen. „Das zeigt sehr deutlich, daß die chinesische Führung keine abweichenden Meinungen tolerieren wird“, sagt die unabhängige Abgeordnete Emily Lau. Sie wird am 1. Juli 1997 ihren Job verlieren, wenn es nach dem Willen Pekings geht.
Dabei hatten Hongkongs Demokraten die Rückkehr zu China anfänglich begrüßt. Seinerzeit gingen sie allerdings davon aus, daß sich China in Richtung Demokratie wandeln würde. Das Pekinger Massaker vom 4. Juni 1989 machte diese Hoffnungen zunichte.
Hatten seit 1982, dem Beginn der sino-britischen Verhandlungen über die Rückgabe der Kolonie, jährlich 20.000 Hongkonger einen ausländischen Paß beantragt, so stieg die Zahl nach 1989 auf jährlich 60.000 an und ging erst seit 1993 auf 50.000 pro Jahr zurück. Inzwischen hat ein Zehntel der Bevölkerung ausländische Pässe, vor allem aus Kanada und Australien.
Der Sozialwissenschaftler Michael DeGolyer untersucht in einem Forschungsprojekt an der Hongkonger Baptisten-Universität den Übergang an China. Nach seinen Umfragen der letzten drei Jahre sind 40 bis 45 Prozent der Befragten für eine Rückgabe Hongkongs an China, 20 Prozent für einen Verbleib bei Großbritannien und 25 Prozent für die Unabhängigkeit, die von China immer ausgeschlossen wurde. DeGolyer: „In all unseren Untersuchungen wollte nie eine absolute Mehrheit unter chinesische Hoheit. Schließlich ist die Mehrzahl der Hongkonger vor dem Kommunismus aus China geflohen. Diese Leute mögen die Rückgabe Hongkongs an China akzeptieren, in ihrem Innersten begrüßen sie sie jedoch nicht.“ Nach DeGolyers Umfragen stehen 20 bis 25 Prozent der Hongkonger Bevölkerung der Demokratiebewegung nahe, während 15 bis 20 Prozent zu den UnterstützerInnen Pekings zählen. Vor allem die jüngeren Frauen fühlen sich weder von der chinesischen Regierung noch von der um Pekings Gunst buhlenden Wirtschaftselite vertreten. Im 150köpfigen Vorbereitungskomitee sind ganze acht Frauen vertreten.
Das Mißtrauen in der Hongkonger Bevölkerung gegenüber der chinesischen Führung zeigte sich erneut im März, als Peking mit Raketentests Taiwan unter Druck setzte und damit in der Kolonie Ängste auslöste. „Wenn China bereit ist, Taiwan anzugreifen und es sogar zu zerstören, dann wird es auch gegenüber Hongkong nicht zögern“, erklärt DeGolyer die Befürchtungen. Pekings Drohgebärden gegenüber Taiwan bewirkten, daß in den letzten Märztagen noch 200.000 Hongkonger britische Auslandspässe beantragten, obwohl diese nur das visafreie Reisen erleichtern.
Trotz aller Differenzen mit Peking verstehen sich die meisten Hongkonger aber sehr wohl als Teil Chinas. Gerade daher hat die Führung der Volksrepublik große Angst, daß sich China am Bazillus der Demokratie infiziert. „Wenn Hongkong ein Teil Chinas wird, ist es nur natürlich, daß sich die Hongkonger auch in die chinesische Politik einbringen“, so der Historiker Ming. „Peking will das Geld und den wirtschaftlichen Einfluß der Hongkonger, aber nicht deren Ideen von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten.“ Ming glaubt nicht, daß die chinesische Regierung bereits nächstes Jahr in Hongkong rigide durchgreifen wird. „China braucht Zeit, um seine Führung in Hongkong zu etablieren.“ An echte Autonomie glaubt er nicht. „Schließlich gibt es in Tibet auch keine.“
Gouverneur Patten und die Vertreter Pekings haben sich inzwischen so zerstritten, daß sie sich für die Übergabe im nächsten Jahr nicht auf gemeinsame Feierlichkeiten einigen konnten. Sogar Pattens neuester Sozialplan für Rentner ging Peking zu weit. Ein Vertreter der chinesischen Führung warnte vor zuviel sozialstaatlichem Denken, womit er selbst den pekingfreundlichen Gewerkschaftsverband vor den Kopf stieß.
Dessen Generalsekretär Leung Fu Wah freut sich zumindest, daß der 1. Mai bald ein öffentlicher Feiertag sein wird. Damit haben auch Industrielle wie Tang kein Problem. Schließlich wird dann auch nicht mehr der Geburtstag der englischen Königin gefeiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen