Die Musikerzieherin Elena Marx nahm 2007 die erste CD mit ihren Kita-Kindern auf – zunächst nur für die Eltern. Inzwischen sind die Kinder vom Kleistpark für ihre Musik und Konzerte über Berlin hinaus bekannt. Ein Gespräch über Sprachen, schwedische Liebeslieder und die Integration kleiner Machos mit oder ohne Migrationshintergrund: „Man kann über Musik mit Kindern sehr ernste Themen verhandeln“
Interview Susanne MessmerFotos Lia Darjes
taz: Frau Marx, woher kommt es eigentlich, dass schon einjährige Kinder sofort anfangen zu tanzen, wenn sie die Kinder vom Kleistpark auf der Bühne sehen?
Elena Marx:Das liegt im Menschen, seit der Steinzeit. Musikerziehung funktioniert immer, wenn ich die Musik mit dem Körper begleite. Deshalb misstraue ich dem Konzept, in der Kita Musik machen und dazu Gitarre spielen zu wollen. Das wird in der Regel nichts. Es ist zu statisch. Kinder machen nur mit, wenn sie auch etwas zu tun haben.
Die Kinder tanzen und singen aber auch mit, wenn sie nur Ihre CD hören – und das, obwohl sie so viel ernster klingt als das meiste, was man unter dem Label Kindermusik kaufen kann.
Ich möchte Musik mit und für Kinder machen, aber mit professionellem Anspruch. Ich möchte das Kind in seiner Kindlichkeit ansprechen, finde aber viele Sachen auf dem Markt kindisch. Viele Musiker, die für Kinder Musik machen, denken, dass Kindermusik immer fröhlich sein muss.
Muss sie denn traurig sein?
Gar nicht, aber man kann mit Kindern über die Musik sehr ernste Dinge verhandeln. Auch erwachsene Dinge wie zum Beispiel die Liebe, die Liebe zwischen Erwachsenen. Wenn man einem Kind erzählt, dass zwei verliebt sind: Das interessiert jedes Kind. Darum habe ich auch auf der aktuellen CD ein schwedisches Liebeslied ausgewählt.
Sie meinen „Zum Tanze, da geht ein Mädel“?
Genau. In diesem altmodischen Lied geht es um einen Jungen, der einem Mädchen ewige Treue schwört und dann doch, als sie ihn loslässt, das Weite sucht. Wir haben sehr ernst besprochen, was es bedeutet, jemanden so fest an der Hand zu halten und sie dann doch loszulassen.
Ist das nicht ein bisschen zu viel des Guten für ein Kind?
Im Gegenteil! Die meisten Erwachsenen trauen Kindern viel zu wenig zu. Kinder wollen ernst genommen werden, auf Augenhöhe. Hinzu kommt, dass ich mit den CDs auch die Eltern ansprechen möchte, die zuhören.
Was tragen Sie dazu bei, dass diese Kita so besonders ist?
Alle Kinder haben vier Mal in der Woche bei mir etwas, das ich Musik und Bewegung nenne. Ich bin seit dem Schuljahr 2006/2007 hier, und zwar jeden Tag.
So oft?
In anderen Kitas kommt ein oder höchstens zwei Mal in der Woche ein Musiklehrer. Ich sehe dagegen alle 130 Kinder, die an dieser Kita sind, fast täglich. Das schlägt ein wie sonst etwas. Es entsteht eine sehr starke Bindung. Ich sehe Entwicklungen, von Jahr zu Jahr. Bei den Kleinen manchmal von Tag zu Tag.
Vielleicht schildern Sie einfach einmal eine ganz normale Unterrichtstunde bei Ihnen?
Bei mir betreten die Kinder tanzend den Musikraum und reihen sich tanzend in eine Schlange ein. In einem Kreis beginnen wir den Unterricht. Dann versuche ich, eine Geschichte so spannend zu erzählen, dass es auch den Kleinen leicht fällt zuzuhören.
Wie schaffen Sie das?
Ich habe eine ganzheitliche Vorstellung von Unterricht, am liebsten hätte ich, dass es auch später in der Grundschule gar keine Fächer mehr gibt. Wenn wir zum Beispiel über Frösche reden, dann singen wir ein Lied über Frösche, quaken, hüpfen, ich erzähle etwas, und am Ende holen wir vielleicht noch die Klangfrösche raus. Bei so einem Unterricht bleiben eigentlich alle dran.
Alle?
Natürlich: Wenn ich weiß, dass ein Kind gerade laufen lernt, dann lasse ich es auch laufen.
Die erste CD der Kinder vom Kleistpark heißt „Lieder und Tänze aus aller Welt“, es tauchen Songs aus Deutschland, Frankreich, Liberia, Tansania, Neuseeland, Österreich, England und Italien auf. Wie kommt ’s?
Kinder spielen gern mit Sprachen, sprechen gern Fremdsprachen.
Der Mensch: Elena Marx ist 43, aus Berlin, hat Klavier- und Elementarmusikpädagogik an der UdK und Tanzpädagogik an der Bundesakademie Remscheid studiert. Sie lebt mit ihrem Mann und drei Töchtern in Schöneberg.
Das Projekt: Seit dem Schuljahr 2006/2007 unterrichtet Elena Marx Tanz und Bewegung an der Kita am Kleistpark. 2007 erschien die erste CD von Wir Kinder vom Kleistpark: „Lieder, Verse und Tänze aus aller Welt“. Inzwischen sind vier weitere erschienen, auf denen die Kinder Lieder und Gedichte aus aller Welt interpretieren. Die nächsten Konzerte sind Adventskonzerte und finden am 28. und 29. November in der Urania statt, der Vorverkauf hat begonnen. Wer das Projekt unterstützen will, kauft CDs und Tickets am besten über die Webpage: www.wirkindervomkleistpark.de
Oft stellen sich aber auch zwischen zwei Liedern Kinder in der Sprache ihrer Eltern vor. Oder singen ein Lied aus dem Land, aus dem sie kamen.
Ich versuche, das Repertoire immer mehr zu erweitern. Auf einmal taucht ein Kind bei uns auf, dessen Mutter aus Korea kommt, und also machen wir auf der nächsten CD ein koreanisches Lied. Ich möchte, dass die Kinder ihre Lieder singen – ich möchte aber auch in Regionen gehen, wo ich vorher noch nie war. Im Moment zum Beispiel würde ich sehr gern ein paar arabische Lieder aufnehmen.
Wegen der Flüchtlinge?
Ja. Es geht um Wertschätzung. Auch wenn das inzwischen ein wenig abgenutzt klingt, möchte ich doch sagen: Schön, dass du hier bist, ich finde es interessant, was du mitbringst.
Das klingt ja fast nach heiler Multikulti-Welt!
Ist es auch. Aber trotzdem soll das nur ein Nebenprodukt sein. Es geht mir um gute Musik.
Warum?
In vielen Interviews werde ich nach besonderen Problemfällen gefragt, die dann von der Musik gerettet wurden. Oder es heißt: Elena Marx hat Kinder aus schwierigen Elternhäusern. Da sage ich immer: Hallo? Deutsche Kinder dürfen doch auch bei mir mitmachen! Und Kinder aus tollen Elternhäusern auch!
Trotzdem werben Sie auf Ihrer Webpage mit dem Slogan „Integration kann man hören“.
Im ersten Jahr befand sich diese Kita noch in der Monumentenstraße in Schöneberg. Damals waren neunzig Prozent der Kinder türkischstämmig. Und ich war so froh, dass ich endlich mal andere Kinder hatte als zuvor, als ich noch an der Musikschule gearbeitet habe und hauptsächlich mit Eltern zu tun hatte, die ihre Kinder nachmittags zum Musikkurs bringen.
Weshalb?
In der Monumentenstraße sind auf einmal ganz andere Notwendigkeiten und Sinnhaftigkeiten entstanden. Ich habe sofort begonnen, andere Sprachen einzubringen.
Wie hat sich die Kita seitdem verändert?
Durch den Umzug an den Kleistpark und natürlich auch mein Projekt hat sich viel geändert. Manche, die sich mit ihren Kindern bei der Kita bewerben, haben ganz falsche Vorstellungen, was ich unter Musikerziehung verstehe. Sie haben auf der CD Instrumente gehört und denken nun, ihr Sohn könnte bei mir Trompete lernen. Dann sage ich: Nein, Trompete lernt er bei mir nicht. Bei mir wird nur gesungen und getanzt. Die Instrumente kommen erst später auf den CDs dazu.
Kommt es trotzdem manchmal vor, dass Sie Begabungen entdecken und das Gefühl haben, Sie müssten ein Kind speziell fördern?
Ich finde: Jedes Kind muss sich bewegen, es soll Lust haben, zu singen und zu tanzen. Aber nicht jedes Kind muss ein Instrument lernen. Ich habe mal Kinder gehabt, die ganz von sich aus gesagt haben, sie wollen Geige spielen. Es kam einfach so aus ihnen heraus. Die Eltern waren interessiert, haben aber gar keinen Druck aufgebaut. Diese Mädchen habe ich dann wirklich zum Geigenunterricht vermittelt. Aber in der Regel lasse ich es eigentlich laufen.
Warum?
Ich träume eher von einem musikbewegten Leben. Wenn jemand zu mir sagt, dass er jetzt Street-Dance macht oder im Chor singt, dann habe ich auch etwas geschafft. Leute, die mich fragen, ob ihr Kind begabt ist, sage ich: Wenn dein Kind anfängt zu sprechen, machst du dir dann Gedanken darüber, ob es später ein Dichter wird?
Gibt es also heute bei Ihnen keine Kinder mehr, die es von Haus aus schwer haben?
Oh doch, natürlich. Aber es gibt eben auch jene Eltern, die genaue Vorstellungen haben, wie ihr Kind erzogen werden soll. Auf die Mischung kommt es an. Da guckt zum Glück die Kitaleitung ganz bewusst drauf, dass das hier nicht zu monokulturell wird, also auch nicht zu deutsch oder gar ausschließlich hochgestochen akademisch – das wäre ja auch eine Katastrophe.
Wieso?
Ich finde immer mehr, dass die sogenannten Bildungsfernen mit den Bildungsbürgern sehr viel gemeinsam haben. Die einen setzen ihre Kinder vor die Glotze, die anderen setzen in anderer Beziehung keine Grenzen. Es gibt Leute, die texten ihre Kinder zu, bis ihnen der Schädel brummt. Es gibt keine klaren Ansagen, kein „Nein, das machen wir jetzt nicht, da kannst du schreien, bis zu schwarz wirst, ich habe entschieden“.
Wie bekommen Sie so einen kleinen Macho ins Boot – ganz egal ob sie nun einen Migrationshintergrund haben oder nicht?
Ich habe da klare Vorstellungen, und vieles an meinem Unterricht ist sehr stark ritualisiert. Es herrscht eine konzentrierte Atmosphäre.
Konzentriert?
Wenn bei mir ein Vierjähriger an einer Stelle plötzlich anfängt rumzurennen, wo es nicht angesagt ist, dann sage ich zu ihm: „Setz dich hin.“ Und wenn es beim dritten Mal nicht funktioniert, dann gehe ich hin und nehme ihn am Arm aus der Situation raus. Ich bin sparsam in den Anweisungen, aber dann konsequent. Ich finde nonverbale Kommunikation im Unterricht gut: Blickkontakte, anfassen, solche Dinge.
Plötzlich geht die Tür auf und Thirza (18) und Zeruya (10) betreten den Raum, zwei der drei Töchter von Elena Marx, die auf den CDs der Kinder vom Kleistpark immer wieder zu hören sind – und die man sofort erkennt, wenn man mal einen ihrer Auftritte gesehen hat. Sie haben zwei Pappbecher in der Hand.
Thirza: Wir haben euch Kaffee mitgebracht.
Elena Marx: Ach, wie toll!
Ihr wart von Anfang an bei den Kindern vom Kleistpark dabei, also seit acht Jahren. Tretet ihr nun etwa in die Fußstapfen eurer Mutter?
Thirza: Ja, also eigentlich will ich genau das Gleiche machen wie Mama. Ich bin gerade mit dem Gymnasium fertig geworden und will an der UdK Musikpädagogik lernen. Ich habe auch schon vier Geigenschüler.
Keine Abgrenzungsbedürfnisse?
Thirza: Nein.
Und du, Zeruya?
Zeruya: Ich auch nicht. Ich spiele Cello.
Ist eure Mutter streng?
Thirza: Jetzt übe ich ja nicht mehr mit ihr. Aber früher schon (lacht).
Ihr seid eigentlich kleine Stars, wisst ihr das?
Thirza: Ach na ja. Davon merken wir eigentlich nicht viel. Ein einziges Mal wurden wir auf der Straße angesprochen bisher.
War das aufregend?
Zeruya: Schon.
Frau Marx, sind Sie eine strenge Mutter?
Elena Marx: Ich will natürlich, dass meine Kinder für die anderen Vorbilder sind. Und dann bin ich auch sehr hartnäckig und sage oft: Reicht nicht. Mach noch einmal. Andererseits sind die Kinder vom Kleistpark unser gemeinsames Projekt, das uns noch stärker miteinander verbindet. Meine Töchter wollen sogar mal zusammen eine WG gründen, sagen sie. Auch wenn es mir manchmal unheimlich ist: Das macht mich schon sehr glücklich.
Wie kam es zur ersten CD der Kinder vom Kleistpark?
Ich bin da mit der naiven Vorstellung hineingegangen, es ganz schlicht zu machen. Vielleicht den Gesang eines Kindes mit Klavierbegleitung aufzunehmen. Aber Jens Tröndle, mein Partner, Toningenieur und Produzent aller CDs von den Kindern vom Kleistpark, macht alles, was er macht, ganz genau. Er hat also zu jedem Lied riesige Arrangements geschrieben. Und dann hat er jeden Musiker gefragt, der sowieso in sein Studio kam, ob er ihm eine Passage einspielt oder ob er ein bisschen improvisieren kann. Und dann musste ich fast jeden Abend, wenn wir nach Hause kamen, mit den Kindern irgend etwas einsingen. Er hat sich da unglaublich Arbeit gemacht.
Das war 2007. Wie haben Sie die CD unter die Leute gebracht?
Wir haben zunächst einmal 500 Stück pressen lassen, nur für die Eltern. Von denen haben wir dann auf einem Kitafest 100 verkauft und hatten ziemlich viele Kartons mit CDs zu Hause übrig. Dann hat Jens hier im Kiez die Buchläden abgeklappert und die CDs auf Provision verkauft. Von den Plattenfirmen bekamen wir natürlich nur Absagen. Es hieß, wir seien ein lokales Nischenprodukt.
Eine Fehleinschätzung.
Ja. Wir bekamen dann ziemlich schnell eine sehr positive Resonanz. Den Rest hat die Mund-zu-Mund-Propaganda erledigt.
Wie ging es weiter?
2009 kam unsere zweite CD raus, da machten wir unser erstes Konzert im Jugendtheater Weiße Rose, wo 250 Leute reinpassen. Ich kam da an, und dann standen da Trauben von Leuten, die nicht mehr reinkamen. Das Konzert war ausverkauft, also machten wir noch ein Konzert. Das war auch ausverkauft, und wir machten noch ein Konzert. Und das war wieder ausverkauft. Das hat uns umgehauen.
Und dann?
Es wurde immer komplizierter. Früher gab es nur Bewegungsqualitäten wie Hüpfen oder Rennen. Heute sind viel mehr Leute auf der Bühne, die Kleinsten werden von Erwachsenen in andere Strukturen geführt, es gibt viele größere Kinder.
Wie stellen Sie sich ungefähr die Kinder vom Kleistpark in zwanzig Jahren vor?
Leider bleibt von unserem Projekt ja gar nichts für uns übrig – nicht vom CD-Verkauf und nicht einmal vom Ticket-Verkauf, wenn die Urania zwei Mal voll ist. Also, ich spinne jetzt mal: In zwanzig Jahren haben wir einen Sponsor gefunden, der uns das Arbeiten erleichtert und mir ermöglicht, unsere Musiker so gut zu bezahlen, dass sie uns über einen langen Zeitraum hinweg begleiten können. Ich würde auch gern einmal außerhalb Berlins auftreten – eine logistisch schwierige Sache, denn wir sind ja so viele Leute.
Das ist alles?
Ich würde gern ermäßigte Tickets anbieten können. Und hin und wieder würde ich auch gern Leute einladen, die sich gar keine Tickets leisten können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen