Die Moral und der Fußball: Das Gute an der WM

Der große Systemkrieg zwischen Diktaturen, religiösen Autokratien und den westlichen Demokratien wird nicht auf dem Fußballplatz entschieden. Im Gegenteil: Bei der WM wird für einen kurzen Moment Gemeinsamkeit hergestellt.

Ein Flitzer mit Regenbogenflagge und politischen Botschaften zu Ukraine und Iran auf dem T-Shirt bei der Fußball-WM 2022 in Katar Foto: dpa

Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 29.11.2022 | „Wer von uns Fußballern erwartet, dass wir unseren Pfad als Sportler komplett verlassen und unsere sportlichen Träume, für die wir ein Fußballerleben lang gearbeitet haben, aufgeben, um uns politisch noch deutlicher zu positionieren, der wird enttäuscht sein“, erklärte der deutsche Nationalspieler Thomas Müller wenige Tage bevor er mit seinen Mitspielern beim verlorenen Auftaktspiel demonstrativ seine Hand vor den Mund hielt.

War das eine kindische Geste eingeschüchterter Feiglinge, die sich nicht trauen, wegen unabsehbarer Konsequenzen für ihre Fußballerei den Rücken gerade zu ziehen? Oder doch eher ein verlogenes, möglicherweise zuvor sogar mit den FIFA-Offiziellen abgesprochenes Zugeständnis an den aktuellen politischen Erwartungsgeschmack der politischen Moralisten?

Seit vor 12 Jahren die WM nach Katar vergeben wurde, begleitet von allerlei Korruption der Entscheider bei der FIFA und den Nationalverbänden, weiß alle Welt, dass in Katar ein islamisches Terrorregime auf der Basis märchenhafter – mit dem Verkauf von fossilen Rohstoffen erwirtschafteter – Reichtümer herrscht, das von konkurrierenden westlichen Energiehungrigen umschwänzelt wird. Es war immer bekannt, dass Frauen, die LGBTQ-Welt und jede Person, die politisch freie, möglicherweise oppositionelle Gedanken äußert, mit mörderischem Terror unterdrückt werden. Es war immer bekannt, dass in Katar wie Sklaven gehaltene Bauarbeiter aus Asien die Stadien gebaut haben und wie Sklavinnen gehaltene philippinische Hausangestellte den Dreck wegräumen müssen.

Die FIFA und alle nationalen Fußballverbände hat das nicht bekümmert. Genauso wenig hat sie Vergleichbares bei der Fußball-WM 2018 in Russland interessiert. Putin hat damals die WM – vier Jahre nach der völkerrechtswidrigen Übernahme der ukrainischen Krim – offen zur Festigung seiner diktatorischen Herrschaft genutzt. In der Öffentlichkeit gab es moralisierendes Gemaule, aber beunruhigt hat das kaum jemanden. Niemals wurde ernsthaft ein Boykott jener und genau sowenig der aktuellen WM erwogen.

Der Weltfußball ist an seiner Spitze ein perverses Millionengeschäft geworden ist

Der Fußball hat seinen Straßenköter-Kick-Geruch noch immer nicht verloren und sein Versprechen, dass jeder mit dem Fuß am Ball ein ganz Großer in der Weltarena werden kann – und nun auch jede. Gerade erobern sich die Frauen weltweit dieses Selbstbewusstseins-Aphrodisiakum. Für dieses Versprechen auf Weltgeltung spielt es keine oder kaum eine Rolle, dass der Weltfußball an seiner Spitze ein perverses Millionengeschäft geworden ist. Vereine werden wie Spielzeuge gekauft und verkauft. Spieler werden wie große Kunstwerke oder lebende Werbetafeln hin und her geschoben. Sie liefern einer gigantischen Unterhaltungsindustrie den Rohstoff für das große Geld.

Nicht alle, aber viele Fußballfans überall auf der Welt stört das nicht. Im Gegenteil. Für sie zählt das Spektakel und der Erfolg. Landet der Ball im Tor, dann siegen die Fans mit. Für einen Augenblick versinkt das ganze Alltagselend in einem sich selbst feiernden Kraftbekenntnis eines grandiosen Kollektivs, hergestellt von elf wundersamen, geschichtenreichen Helden. Dieses kollektive Hochamt wird bei WM-Turnieren gern mit nationalem Pathos aufgeladen. Aber dieses Pathos ist bloß eine medial aufgeladene Phrase, nicht mehr als die Demonstration einer Zugehörigkeit, die zu nichts verpflichtet, die politisch und gesellschaftlich wirkungslos ist.

Es gibt sie, die anderen Fußballfreunde, die Fußballkneipen, die aus Wut über den Ausverkauf der Vereine an die Finanzinvestoren das Turnier in Katar nicht verfolgen oder zeigen. Sie träumen von Fußballvereinen, in denen die Mitglieder und nicht die Investoren das Sagen haben, sie selbst die Vorstände kontrollieren und die Spielerpolitik bestimmen. Ihr „reclaim the game“ ist ein Versuch, die Vereine zu demokratisieren. Respekt dafür. Aber gegen die Verführung für die Vereine, mit dem Geld die besten Spieler national und weltweit einzukaufen oder auch nur irgendwie mithalten zu können, haben sie keine Chancen. Für eine Entmachtung der Investoren im großen Fußball bräuchte es sportgesetzliche Regulierungen, die den Vereinen verbindliche Grenzen ziehen. Die wird es nicht geben.

Werbung mit politisch aufgeladener Fußballmoral

Ganz anders sieht es mit den Moralisten aller Fraktionen aus. Sie haben in der Kumpanei der FIFA mit den katarischen Herrschern eine Steilvorlage für ihren Versuch erkannt, unser ganzes Leben unter die Prämissen ihrer alleinseligmachenden Wahrheiten zu zwingen.

Sie versuchen, politisch aufgeladene Fußballmoral für ihr jeweiliges Geschäft zu kapern. Dabei bilden sich erstaunliche Allianzen: Sie reichen von den Aktivisten mit menschenrechtlich und diktaturkritisch erhobenem „Das darf doch nicht sein-Zeigefinger“ über den REWE-Konzern, der eine ohnehin schon beschlossene Kündigung eines Sponsoren-Vertrags mit dem DFB nachträglich mit moralischen Argumenten zur Eigenwerbung aufhübscht, bis zur Bild-Zeitung: Bild findet es unerträglich, dass unsere Kicker nicht mit der One Love-Binde auflaufen, unabhängig davon, ob daraus irgendetwas folgt. Und Innenministerin Nancy Faeser (SPD) versucht dann auch noch, ihre ideenlose Innenpolitik mit einem medienwirksam inszenierten Auftritt mit der erwähnten Love-Binde aufzumotzen.

Da hatte das Auftreten der Iraner mit dem Nichtsingen ihrer Nationalhymne beim ersten Spiel und der iranischen Frauen auf den Tribünen, die mit ihrem unverschleierten Gesicht ihr “Woman-Life- Freedom“ präsentieren, eine andere Qualität. Sie müssen bei ihrer Rückkehr in den Iran nun um ihr Leben fürchten. Es ist verlogen, wenn die Iraner für ihren Mut im Fußballstadion bewundert werden, in der alltäglichen Politik aber die Verbrechen der Mullahs achselzuckend hingenommen werden.

Ich selbst verstehe nicht viel von Fußball. Aber ich verstehe Thomas Müller: Er will guten Fußball spielen. Er weist den Versuch zurück, ihn politisch zu instrumentalisieren. Ich freue mich auf das Spiel der Deutschen gegen Costa Rica am Donnerstag. Ich lasse mir von Moralisten ohne wirklichen Veränderungsplan das Vergnügen nicht vermiesen, mich am Bildschirm an dem heiligen Ernst zu erfreuen, mit dem auch die neueste Generation junger Fußballhelden aus der ganzen Welt über alle derzeit wachsenden Gräben hinweg für einen kurzen Augenblick weltweite Gemeinsamkeit herstellt.

Der große Systemkrieg zwischen den Diktaturen und den religiösen Autokratien und den westlichen Demokratien wird nicht auf dem Fußballplatz entschieden. Diesen Krieg müssen die Menschen auch ohne die lähmende Moralisiererei unseres ganzen Lebens gewinnen. Das wird noch schwer genug.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.

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