■ Die Menschenrechte werden vor allem in den muslimischen Ländern als ein Kampfmittel der alten, westlichen Kolonialisten gesehen: Ein Modell – so gut wie der Islam
Obwohl die Menschenrechtsdeklaration von 1948 universelle Gültigkeit beansprucht, wird sie von der Mehrheit der Menschen in der Dritten Welt als etwas verstanden, was den Schutz des Wohlstandes des Westens auf Kosten der nicht- westlichen Nationen zum Ziel hat. Ob Menschenrechte universal sind oder nicht, scheint deshalb nicht die Frage, sondern vielmehr, warum sie nicht weltweit akzeptiert werden. Sind Moderne, Aufklärung, Gleichheit und Freiheit also eine rein westliche Idee? Keineswegs. Nur weil die menschliche Zivilisation ihre jüngste und moderne Entwicklung im Westen erreicht hat, bedeutet dies nicht, daß die menschliche Zivilisation insgesamt westlich ist.
Die „Moderne“ wird als „der moderne, industrialisierte und städtische Lebensstil“ verstanden, der für eine spezifisch westliche Vorstellungswelt steht und seine Wurzeln im 18. Jahrhundert hat. Einer Periode, in der Rationalität und Wissenschaft über Religion und Tradition triumphierten. Im Zentrum der Moderne steht die Vorstellung des frei handelnden, sich frei entscheidenden Individuums. Diese Definition von Moderne, die ja im Prinzip zutrifft, sollte allerdings eine historische Analyse der Bestandteile dieser Moderne einschließen. Denn die Moderne ist ein Prozeß der Entwicklung und der Kontinuität. Sie begann, als Menschen anfingen, sich anzusiedeln, Ackerbau zu betreiben und „Gemeinschaften“ (communities) zu bilden. Man sollte deshalb besser von „Modernen“ sprechen, deren universelle menschliche Elemente in die Ausformung der Moderne einflossen, die fälschlicherweise als „westlich“ bezeichnet wird.
Die Menschenrechte sind ebenfalls ein Ergebnis von Kämpfen – von Spartakus in Rom bis zu Nelson Mandela in Südafrika – gegen jegliche Art von Unterdrückung. Wenn jede Kultur der Erde historisch in die Moderne mündet und auf die eine oder andere Weise auch in die Menschenrechtserklärung eingeflossen ist, warum werden dann die Ansichten über die Vorzüge von Moderne und Menschenrechten nicht von allen geteilt? Wieder ist der Westen am Zug. Das politische Europa und die USA leben noch immer im Zeitalter der Herrschaft des weißen Mannes. Das heißt, daß sie nur gegen Menschenrechtsverstöße vorgehen, wenn die Rechte von Weißen beschnitten werden. Wenn die Menschenrechte von Nichtweißen verletzt werden, reagieren Europa und die Vereinigten Staaten, wenn überhaupt, nur zögernd. Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Erniedrigung sind die Faktoren, die aus der Sicht der nichtwestlichen Öffentlichkeit die Beziehung zwischen dem Westen und dem Rest der Welt bestimmen. Die Menschenrechte werden für die politischen und ökonomischen Interessen des Westens instrumentalisiert. Wenn diese Interessen sichergestellt sind, gibt es auch keinen Grund, Menschenrechte einzuklagen.
Die Ablehnung von „Moderne“, „Demokratie“ und „Menschenrechten“ in der muslimischen Welt wurde bislang als Folge des Islam, der ein „statisches“ religiöses Konzept sei, diskutiert. Sicherlich ist der Islam für Muslime mehr als eine bloße persönliche Angelegenheit. Dies rechtfertigt jedoch noch lange nicht, die Ablehnung der Moderne auf eine bloße theologische Diskussion zu reduzieren. Wenn man an das Christentum und den Islam dieselbe Elle anlegen würde, könnte man erkennen, daß sich die Kirche ebenfalls heftig gegen säkulare Erklärungsansätze gewehrt hat. Erst unter dem Druck sozialer und politischer Veränderungen paßte sich die Kirche an die „Moderne“ an.
Die Muslime kamen mit der Moderne hauptsächlich durch Kolonisation in Berührung. Deshalb war und ist dort das Bild des Westens und in der Folge auch der Moderne stets gespalten: Es ist das Bild des Kolonialisten und des Herren, des Feindes und des Lehrmeisters. Moderne muslimische Denker sind zwischen Haß und Bewunderung, Feindschaft und Liebe zerissen. Die Moderne wird aus praktischen Gründen zwar angestrebt, gleichzeitig aber zurückgewiesen, weil sie eine Bedrohung für die traditionelle Identität darstellt. Deshalb scheinen alle politischen Regime der islamischen Welt eine Light-Version, eine verstümmelte Version der Moderne vorzuziehen, sprich eine Moderne ohne angewandte Rationalität.
Sogar in der Türkei, dem einzigen islamischen Land, das sich säkular nennen kann, befindet sich die Moderne unter militärischer Kontrolle. Das Fehlen zivilgesellschaftlicher Institutionen, die die einzigen Garanten der modernistischen Kontinuität darstellen, ist ein bemerkenswertes Symptom dieser verstümmelten Moderne. In diesem Abklatsch der Moderne ist Individualität schon immer als Bedrohung für den Zusammenhalt der Gemeinschaft (community) betrachtet worden, obwohl sie auch in den ursprünglichen, grundsätzlichen Schriften des Islam betont wird.
Da die Moderne aufgezwungen und nicht frei gewählt ist, wird sie, wie bereits erwähnt, mit der Angst, die eigene Identität zu verlieren, verbunden. Die Reformer der religiösen und nationalistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts betrachteten deshalb Individualität als etwas Zwiespältiges. Angesichts des militaristischen, imperialistischen Westens waren muslimische Nationalisten dazu gezwungen, Schutz in ihrer Vergangenheit zu suchen und diese als kulturellen Schutzwall gegen die westliche Dominanz aufzubauen. Die von ihnen reaktivierte islamische Vergangenheit hat keine moderne Identität in der rationalistischen Tradition verankert.
Tatsächlich waren die Nationalisten in der Moderne Gefangene einer historischen Situation, die ihnen keine Wahl mehr ließ. Es gab zwei Möglichkeiten: Erstens sich auf die humanistische Herkunft des westlichen Kolonialisten zu berufen mit dem Risiko, die eigene Einheit zu verlieren. Zweitens, angesichts der Kolonialisten durch das Festhalten an der Vergangenheit, ein Gefühl der Einheit zu bewahren, die Tradition des ta‘a (Gehorsam) zu praktizieren und sich gegen jede westliche Innovation, außer dem Import von Technologie, zu verschließen. Rationalismus beinhaltet ra'i (individuelle Meinung) und ‘aql (Verstand) und daher die Möglichkeit kontroverser Ansichten, die als Bedrohung für die gesellschaftliche Einheit betrachtet werden.
Welche Änderungen seit der Kolonisation können nun in der Beziehung zwischen dem Westen und der islamischen Welt festgestellt werden? Wieviel Druck wird immer noch gegen die islamische Welt zum Schutze der ökonomischen und politischen Interessen des Westens ausgeübt? Wie viele ungerechte politische Regime werden vom Westen gegen den Willen der Bevölkerung unterstützt? Wie viele politische Manipulation wird gegenüber den Muslimen durch die Darstellung des Islam als Ersatzfeind des Westens nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ausgeübt? Es stimmt, daß die Welt zum Dorf geworden ist, aber in diesem Dorf werden die Armen im Süden immer ärmer, während die Reichen des Nordens immer reicher werden. Die Moderne, Menschenrechte und Demokratie gelten nur für die Privilegierten; den Unterprivilegierten bleibt nichts als der Ruf nach Gerechtigkeit. Und dieser manchmal gewaltsame – jedoch nicht dem Islam innewohnende – Ruf trägt in sich die Frage nach den Menschenrechten und ihrer Relevanz überhaupt.
Abschließend ist zu sagen, daß den Menschenrechten als Modell, Prinzip und Ideal absolute, universelle Bedeutung zuerkannt wird. Die Realität sieht jedoch anders aus. Die weltpolitische Situation hat bis heute diesen Grad der Universalität nicht erreicht. Der Islam als Religion ist ebenso wie die Menschenrechtsdeklaration vollkommen, universal und auch sehr menschlich. Aber die soziokulturelle und politische Situation der meisten muslimischen Länder erlaubt keine Dekodierung der ursprünglichen Botschaft des Islam. Die Welt muß sich verändern, um die Ideale menschlicher Grundprinzipien zu erreichen. Ein kulturelles Netzwerk aus Intellektuellen, Schriftstellern, Künstlern, Journalisten und Wissenschaftlern aus der ganzen Welt sollte die Verantwortung für die Schaffung von Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit zwischen den Völkern und Kulturen übernehmen. Ich hoffe, dies ist keine schiere Utopie. Nasr Abu Said
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