: Die Macht der Opfer
Warum werden Menschen zu Opfern? Wie gehen sie damit um? Und wie können sie aus dieser Position herauskommen?43–45
Text Friederike Gräff
Es ist schwieriger geworden, über Opfer zu sprechen. Der Begriff ist Teil einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung geworden, in der es um viel geht: Aufmerksamkeit, Rechte, moralischen Status. Opfer, das ist ein Begriff, der in sonderbarer Gleichzeitigkeit Schimpfwort und Ausdruck von Anerkennung ist.
Die vielen Meta-Debatten, die über die #MeToo-Debatte geführt wurden, sind da beispielhaft. Sehr bald ging es nicht mehr nur um das, was Frauen über sexuelle Übergriffe von Männern berichteten – es ging um den Gestus, mit dem sie es taten. Indem sie sich als Opfer bezeichneten, machten sie sich klein, war einer der Vorwürfe gegen die Protagonistinnen. Und: dass das Feld, in dem man sich bewegte, zu klein blieb. Der Film- und Theaterbetrieb wurde unter die Lupe genommen, aber was war, was ist mit Schnellrestaurants oder Supermärkten?
Um welchen Preis bezeichnet man sich als Opfer? Ist dem Begriff die Passivität und Hilflosigkeit notwendigerweise eingeschrieben? Oder umgekehrt: Banalisieren die Alternativen wie „Betroffene“, „Erlebender von“ das, was die Menschen an Gewalt erlebt haben? Die Debatte läuft und so mühsam sie ist, wenn es nur um populistische Kämpfe auf dem Markt der Aufmerksamkeitsökonomie geht: Es ist ein Gewinn, das sie geführt wird.
Denn nach wie vor ist der Anteil derer, die aus Scham oder Angst gewalttätige Übergriffe nicht öffentlich machen, viel zu hoch. Viele Frauen zeigen sexuelle Übergriffe nicht an, weil die Täter aus ihrem Umfeld stammen. Männer schweigen über erlittene Gewalttaten, weil sie es mit ihrem Selbstverständnis nicht vereinbaren können, Opfer geworden zu sein.
Vielleicht liegt darin ein emanzipatorischer Impuls der #MeToo-Debatte: dass sie aufzeigt, wie aus Opfern Agierende werden, gerade indem sie öffentlich machen, dass man sie zu Opfern gemacht hat. Und vielleicht strahlt diese Bewegung so weit aus, dass auch Männern dieser Schritt möglich wird: sich selbst als Opfer zu zeigen. In einer idealen Welt wäre das ein Schritt hin zu einer weniger gewalttätigen Gesellschaft.
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