■ Die Liebe Gottes nimmt seltsame Wege – und die U-Bahn: „Jesus hat auch keinen gezwungen“
Dahinten wird gekichert. Die U-Bahn wackelt durch Berlin- Kreuzberg, vom Kottbusser Tor zum Görlitzer Bahnhof. Im Gang steht ein hochgewachsener Mann mit Bart und Glatze. Freundlich sieht er aus, seine grüne Stoffjacke paßt gut zum schwarzweiß karierten Hemd und zur schwarzen Jeans. Die braunen Sandalen machen das Bild vom lieben Onkel komplett. Und tatsächlich. Er lächelt. Wie ein lieber Onkel eben. Die meisten Fahrgäste starren ihn ziemlich verständnislos an oder gucken bemüht in eine andere Richtung. Was macht den Kerl so interessant?
Normalerweise rührt sich keiner. Da kann kommen, wer will. Anna heiße sie, sie habe Aids und Krebs, arbeitslos sei sie, seit Monaten lebe sie auf der Straße, heute habe sie noch nichts gegessen, und deshalb würde Anna sich über eine kleine Spende freuen. Auch über einen Apfel oder eine Stulle. Egal. Und plötzlich der liebe Onkel, und in der U-Bahn ist etwas los. Der Mann mit dem weißen Bart bettelt nicht. Stumm steht er da und lächelt. Er hat einen Koffer in der Hand, auf dem FRAGE MICH NACH JESUS geschrieben steht. Was will er? Geld?
Wolfgang – so heißt der Kofferträger – möchte den Menschen von der Liebe Gottes erzählen. Doch er weiß, daß nicht alle Menschen sich für die Liebe Gottes interessieren. Und für die Liebe des Heilands auch nicht. Das respektiert Wolfgang. Seine Mission ist ihm heilig. Deshalb wolle er seine Mitmenschen nicht nerven: „Jesus hat auch keinen gezwungen, seine Predigten anzuhören. Ich bin ein Jünger Jesu.“
Seit Jahren schon reist Wolfgang durch Deutschland. Der Koffer ist sein ständiger Begleiter. Jesus höchstpersönlich habe ihn auf die Idee mit dem Koffer gebracht, sagt er. Manchmal wird er angesprochen. Ältere Damen geben ihm oft eine Spende, die Wolfgang jedoch immer zurückweist. Er sei kein Bettler, erklärt er.
Gestern hat ihn in Wilmersdorf ein jüngerer Herr zum Kaffee eingeladen. Das hat Wolfgang gefallen. Nicht gefallen hat ihm, daß der Gastgeber sich als Mitglied der Sulmonischen Freikirche zu erkennen gab und ihn bat, doch künftig für die Sulmonier Werbung zu machen. Da ist Wolfgang aufgestanden und wieder in die U-Bahn gegangen. „Die haben die frohe Botschaft nicht begriffen. Pah, Werbung! Schrecklicher Laden“, sagt Wolfgang.
Er hat keine feste Bleibe, er übernachtet in Unterkünften für Obdachlose. Meistens in kirchlichen Einrichtungen. Wolfgang, der schweigsame Kofferträger, der die Menschen nur dann über Gott und Jesus informiert, wenn er dazu aufgefordert wird, ist bei den Kirchen ein gerngesehener Gast. Pfarrer Gunske in Steglitz beispielsweise meint, auch die Penner könnten von Wolfgang lernen. Man stelle sich einmal vor, sagt er, unsere Clochards schrieben ihre Forderungen fortan auf das Gepäck oder auf bunte Schilder, die Tramps schlössen sich zusammen und zögen schweigemarschmäßig durch die Tram. „Da wäre auch der Innensenator sprachlos“, glaubt Pfarrer Gunske.
Wolfgang ist eigentlich ganz froh darüber, daß keiner ihn nachahmt: „Die Leute halten mich sonst noch für einen gewöhnlichen Stadtstreicher.“ Carsten Otte
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