orte des wissens: Die Kunst des blutleeren Operierens
Am Comprehensive Cancer Center Niedersachsen entfernt man bislang inoperable Tumore, indem man das befallene Organ zeitweilig vom Blutkreislauf abtrennt
Als Susanne Viehmeier die Diagnose Gallenwegskarzinom bekommt, gibt sie ihrem Tumor einen Namen, „Erich“. Sie zeigt damit, dass der Krebs ein Feind ihres Körpers ist und doch unausweichlich zu ihr gehört. Der Tumor gilt als inoperabel. Dank der Behandlung mit einer intensiven individuellen Medikation ist der Tumor kleiner geworden. Doch die Nebenwirkungen für Susanne Viehmeier sind absehbar nicht mehr erträglich. Was also tun, um „Erich“ zu bekämpfen?
Auf komplizierte, aussichtslos scheinende Fälle wie diesen ist das Comprehensive Cancer Center Niedersachsen (CCC-N) spezialisiert. In Kooperation erproben die Universitätsmedizin Göttingen und die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) seit 2019 innovative Behandlungsmethoden – gegen „Erich“ und für eine Zukunft von Susanne Viehmeier. Am 1. April 2025 wird die 62-jährige Wolfsburgerin an der MHH operiert, mit einer weltweit erstmals angewandten OP-Technik.
Moritz Schmelzle leitet das Transplantationszentrum der MHH. Der Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie greift dabei auf eine Idee seines Vorgängers Rudolf Pichlmayr zurück. Der Transplantations-Pionier Pichlmayr hatte mehre grundlegende technische Innovationen in die Leberchirurgie eingeführt. Dazu gehörte, den Blutfluss der Leber zu unterbrechen, um sie blutleer operieren zu können.
Die von Pichlmayr entwickelte OP-Technik, ein vom Krebs befallenes Organ vom Blutkreislauf des restlichen Körpers zu trennen, wurde von den meisten Leberzentren fallengelassen, wie Moritz Schmelze erläutert. Die Komplikations- und Sterblichkeitsrate war einfach zu hoch. Doch jetzt, im Kampf gegen „Erich“, war das aktuelle Transplantationswissen der MHH ausschlaggebend für die viereinhalbstündige OP. „Wir haben alle Blutgefäße der Leber ausgeklemmt und den Kreislauf um die Leber herumgeleitet. Dadurch konnten wir während der Leberoperation einen stabilen Kreislauf aufrechterhalten. Dann haben wir einen zweiten Kreislauf etabliert und die Leber mit einer sauerstoffreichen Spüllösung versorgt, damit die Leberzellen nicht absterben.“
Einen Kreislauf im Körper während einer Leberresektion aufrechtzuerhalten, revolutioniert die Möglichkeiten der Tumorchirurgie, denn nun sind auch die komplexesten Operationen an der Leber technisch möglich. „Wichtig ist bei solchen „Out of the box“-Operationen, das Risiko und den Nutzen mit der Patientin ausführlich zu besprechen, sich Zeit zu nehmen.“ Da gäbe es kein „one fits all“, wie Schmelzle betont. „Auch mit Frau Viehmeier und ihren Mann haben wir das über mehrere Wochen abgewogen und eine ganz bewusste Entscheidung getroffen.“
Diese OP-Praxis ist aufwändig, und natürlich bleibt sie risikoreich. Doch gut abgestimmt, hat das erfahrene Team des Comprehensive Cancer Center den Eingriff gewagt. Das Wohlergehen von Susanne Viehmeier ist die schönste Bestätigung. Weitere Patienten profitieren davon. Vor einigen Tagen sei eine zweite Patientin genauso operiert worden, auch ihr geht es laut Schmelzle bestens. Ein dritter Patient soll bald operiert werden.
Solche Krebsoperationen sind nur an onkologischen Spitzenzentren wie dem CCC-N durchführbar, wo sowohl Expertise in der Tumorchirurgie als auch in der Transplantationschirurgie vorliegt. Für jeden Patienten – rund 15.000 pro Jahr – wird in interdisziplinären Tumorkonferenzen ein individuelles Behandlungskonzept erstellt. Alle an der onkologischen Diagnostik und Therapie beteiligten Kliniken und Institute arbeiten eng zusammen. Kooperation schafft hier Innovation, damit ein Krebs wie „Erich“ wirksam bekämpft werden kann. Frauke Hamann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen