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Die Kunst des Zuhörens

Gereiztheit, Dauerablenkung, Desinformation – die Welt wird lauter, die Tonlage schriller, die Stimmung unversöhnlicher. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beschreibt, wie man trotzdem die erreicht, die man nicht mehr erreicht

Kevin Briggs (links) hat Kevin Berthia 2005 vor dem Sprung von der Golden Gate Bridge gerettet Foto: Winni Wintermeyer/Redux/laif

Von Bernhard Pörksen

Seit ich das erste Mal dort war, fasziniert sie mich, die Golden Gate Bridge, diese Ikone architektonischer Schönheit. Immer wieder kehre ich zu ihr zurück. Mitunter bin ich schon früh vor Ort, kurz vor Sonnenaufgang, noch in der Dunkelheit. Und manchmal, in besonderen Momenten, wirkt der Himmel über der Brücke, kaum ist die Sonne dann da, als stünde er in Flammen. Und dann rasen Nebelschwaden, Wesen der Luft und des Himmels, über die Bucht von San Francisco, verhüllen für Momente das orangerote Leuchten der Brücke, umspielen die stählernen Träger und Trossen dieses Jahrhundertbauwerks, das sich mehr als zwei Kilometer lang über das Wasser spannt, ein eigentümlich filigran wirkendes Monument aus knapp 900.000 Tonnen Stahl und Beton, das Menschen rund um den Globus in seinen Bann schlägt. Über zehn Millionen Besucherinnen und Besucher kommen Jahr für Jahr hierher, schauen den Kite-Surfern bei ihren tollkühnen Sprüngen zu oder beobachten die Wale, die hier manchmal ihre Bahnen ziehen. Und vielleicht ist die Schönheit der Golden Gate Bridge einer der Gründe, warum man so lange das Leid und das Sterben ignorierte, das sich hier abspielte, vor aller Augen und von Anfang an.

Ein Jahr vor der Eröffnung der Brücke am 27. Mai des Jahres 1937 prahlt der Architekt Joseph Strauss, das Bauwerk sei praktisch selbstmordsicher. Das ist falsch, ist doch das Geländer nur 1,20 Meter hoch. Zehn Wochen nach der feierlichen Eröffnung – rund 200.000 Neugierige waren erschienen – springt hier Harold Wobber, Veteran des Ersten Weltkriegs, in den Tod. „Weiter gehe ich nicht“, lautet nach allem, was man weiß, sein letzter Satz, den er einem Fremden zuruft.

Seit diesem Tag stürzten sich nach offiziellen Angaben rund 2.000 Menschen von der Brücke, die Dunkelziffer dürfte höher sein. Viele sprangen in der Erwartung eines schnellen, sicheren Endes, manche gefangen in der Illusion, in das eiskalte Wasser wie in eine andere, bessere Welt einzutauchen, ein freundliches Jenseits.

Die Fakten sprechen eine andere, brutalere Sprache. Wer in den knapp 70 Meter tiefen Abgrund springt, dessen Körper schlägt nach drei bis vier Sekunden auf der Wasseroberfläche auf, die bei einer Geschwindigkeit von 120 Kilometern pro Stunde hart ist wie Beton. Lunge und andere Organe werden von zersplitterten Rippen durchbohrt, man wird von der Strömung in die Tiefe gerissen, ertrinkt im eigenen Blut.

Über die Jahre entsteht ein bizarrer Suizidkult rund um die Golden Gate Bridge, befeuert von grausamen Initiativen. Es gründet sich ein Wettklub, die „Golden Gate Leapers Association“, gruppiert um die Frage, an welchem Tag der Woche der nächste Mensch in den Tod springen wird. Ein lokaler DJ bietet an, den Angehörigen des tausendsten Todesspringers eine Kiste Apfelsaft zu spendieren – die Polizei beendet die Countdownaktion bei 997. Wieder und wieder muss jemand von dem Versuch abgehalten werden, über das Geländer zu klettern. Einmal hinterlässt einer der Verzweifelten, bevor er in die Tiefe stürzt, eine Abschiedsnotiz, die er nicht an seine Familie oder seine Freunde richtet, sondern an die Brücke selbst. „Warum“, so will er wissen, „machst du es so einfach?“

Der 21. Juni 2021, früher Abend. Ich bin erneut auf der Golden Gate Bridge, dieses Mal ohne Blick für die monumentale Eleganz des Bauwerks, sondern mit einer Forschungsfrage und einem Buchplan im Kopf. Es ist eine Frage, die mich schon Jahre umtreibt. Sie lautet: Wie kann Zuhören das Leben verändern, in neue Bahnen lenken? Und was heißt es überhaupt, wirklich zuzuhören?

Donnernder Verkehrslärm. Kalter Wind, bei immer noch tiefblauem Himmel. Hier stehe ich nun, fast in der Mitte der Brücke, nicht weit von jenem Ort entfernt, den sich die meisten Menschen für ihren Todessprung aussuchen; neben mir Kevin Briggs, ein eher kleiner, muskulöser Mann mit einem von der Sonne gegerbten Gesicht. Briggs hat in seinen knapp zwanzig Dienstjahren als Verkehrspolizist der California Highway Patrol über zweihundert suizidgefährdeten Menschen geholfen, nicht von der Brücke zu springen – und den entscheidenden Schritt zurück zu tun. Nur zwei Menschen konnte er nicht davon abbringen. Als „Schutzengel von der Golden Gate“ ist er weit über die Region hinaus bekannt.

Und ich bin hier, um seine Form der existenziellen Krisenkommunikation zu begreifen, die er sich selbst beigebracht hat, ohne ein Studium der Psychologie. Wie hat er, der Polizist in der beigefarbenen Uniform, sich den Menschen genähert, die da – verstört, verzweifelt, hoffnungslos – auf dem schmalen Vorsprung unterhalb des Geländers einen Schritt weit vom Abgrund entfernt standen? Wie hat er verhindert, dass die prekäre Situation plötzlich kippt, ein falsches Signal den letzten Faden zum Leben zerreißt? Und wie ist es ihm gelungen, eine Verbindung zu schaffen, Vertrauen aufzubauen, sodass die Menschen am Ende die ausgestreckte Hand ergriffen und zurück über das Geländer stiegen?

Kevin Briggs, heute Berater für ­Suizidprävention, zeigt mir Schritt für Schritt und Wort für Wort wie er so viele Male vorgegangen ist. Er läuft jetzt ganz langsam auf einen imaginären Todesspringer zu, vorsichtig, konzentriert. Ich gehe neben ihm her, mache mir Notizen. Er würde sich jetzt die Jacke ausziehen, so sagt er, weil auch der andere, den wir uns vorstellen, nur ein T-Shirt trägt und im Wind zittert und friert und Briggs spüren will, was dieser andere spürt, soweit das eben geht. Dann erst einmal stehen bleiben, so sagt er, vielleicht ein stilles Gebet sprechen, die Hand heben. Die erste Frage stellen: „Hallo, ich bin Kevin; ist es okay, wenn ich ein Stück näher komme und mit dir spreche?“ Es ist eine Frage, die ermächtigen soll, gerade im Moment des erlebten Kontrollverlustes.

Niemals die eigene Anspannung herausschreien, sagt Briggs. Niemals durch Kalendersprüche – „Morgen ist wieder ein neuer Tag!“ – die Gefühle des anderen kleinreden. Es gilt vielmehr, diese Gefühle zu bestätigen und zu normalisieren, zum Beispiel so: „Du hast viel durchgemacht, wirklich … das klingt echt hart.“ Nicht von sich erzählen. Die Polizistenrolle abstreifen. Vornamen verwenden; je persönlicher die Kommunikation, desto besser. Dann die Kollegen anmorsen, dass sie den Verkehr in beide Richtungen stoppen, die Schaulustigen zurückdrängen, die äußeren Ablenkungen reduzieren. Das Tempo rausnehmen. Zeit gewinnen. Im Zweifel ein paar Sekunden warten, bevor man selbst wieder etwas sagt.

Und erneut: bloß nicht losmoralisieren! Niemals Vorwürfe machen! Irgendwann die Wahrnehmung durch ein paar knappe Zwischenfragen weiten, die dem anderen in seiner Not signalisieren, dass er wertvoll ist und Verantwortung trägt, für sich und für andere, die ihn vielleicht brauchen. Und dann vor allem zuhören.

Erst durch das Zuhören, dieser untergründig wirksamen Supermacht der Kommunikation, so sagt Briggs, entsteht eine Verbindung, über die ein Mensch ins Leben zurückkehren kann. Einmal spricht er mit einem Obdachlosen, der ihm erzählt, dass er einen Goldfisch besitzt. Da ist er, der Ansatz, um die Aufmerksamkeit von den Todesgedanken wegzuziehen. Briggs fragt nach. Er will wissen, wie der Goldfisch heißt. Er will wissen, wer ihn in der Notunterkunft füttern wird, wenn der Mann jetzt wirklich springt. Schließlich klettert der Obdachlose auf die Brücke zurück, um seinen Goldfisch zu retten, an den er in seiner Verzweiflung nicht gedacht hatte. Aber erneut: Worin besteht sie, die eigentümliche Macht des Zuhörens? Was ist hier eigentlich passiert?

Bernhard Pörksen, 56, ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Dieser Essay basiert auf seinem Buch „Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen“, das 2025 bei Hanser erschienen ist.

Es gibt, so mein Grundgedanke, eine Art egozentrische Aufmerksamkeit, ein Ich-Ohr, geleitet von der Frage, ob das, was der andere mir sagt, mit dem übereinstimmt, was ich selbst glaube. Hier sind die eigene Weltwahrnehmung und das System der eigenen Urteile und Vorurteile bestimmend. Man hört mit dem Ich-Ohr vor allem sich selbst, geprägt von eigenen Filtern, Sehnsüchten, Ängsten. Und es gibt ein Du-Ohr nicht egozentrischer Aufmerksamkeit, regiert von einer ganz anderen Frage. Sie lautet: In welcher Welt ist das, was der andere mir sagt, sinnvoll und wahr? Hier verlieren die eigenen Urteile und Vorurteile an Bedeutung; hier versucht man, in die Welt des anderen einzutauchen, ihn wahrzunehmen. Erkenne das andere als anderes – in seiner Fremdheit, seiner Schönheit, seinem Schrecken, so lässt sich der kategorische Imperativ des Du-Ohr-Zuhörens formulieren. Existenzielles, über das Selbst hinausweisendes Zuhören ist so betrachtet eine „Metapher für Offenheit“, für „innere Gastfreundschaft“ und für die „Bejahung des Anderen“, sagt die Sozialwissenschaftlerin und Musikerin Christina Thürmer-Rohr.

Der Polizist Kevin Briggs hat mit dem Du-Ohr zugehört, aber doch auch – im unbedingten Bemühen, den anderen von seinem Vorhaben abzubringen – ein klares Ziel vor Augen gehabt, stets auf der Suche nach Ansatzpunkten, um ihm zu helfen, beides gleichzeitig. Aber wie gelingt es, vom gängigen Ich-Ohr-Zuhören in den Du-Ohr-Modus zu wechseln? Wann enden Ignoranz und Egozentrik? Wie geht geistige Offenheit?

Ich beginne, um diese Fragen zu beantworten, nach Beispielen zu suchen, recherchiere in ganz unterschiedliche Richtungen – und reise dafür um die halbe Welt. Ich suche Kontakt zu Whistleblowern, die oft über Jahre hinweg auf ein Fehlverhalten aufmerksam machen. Denn jeder Skandal, so zeigt sich, beginnt mit fehlendem Zuhören im System einer Organisation. Immer ist da jemand, der sich bemüht, mit einer Warnung durchzudringen, oft ohne Erfolg. Ich treffe mich mit Klimajournalisten der ersten Stunde und Umweltpolitikerinnen, um zu begreifen, wie sich, trotz der allgemein menschlichen Verdrängungsneigung, ein ökologisches Gehör herauszubilden vermag, eine Sensibilität für die Verwüstungen im planetarischen Maßstab, die Ausplünderung der Erde. Ich spreche mit Betroffenen sexualisierter Gewalt, die man lange nicht hören wollte, erschüttert von der Sisyphusarbeit ihrer Aufklärungsanstrengungen.

Fast drei Jahre lang begleite ich Misha Katsurin, einen Unternehmer aus Kyjiw. Kurz nach Beginn von Putins Angriffskrieges versucht er, seinen Vater zu erreichen, der in einem russischen Kloster lebt, abgeschottet und in seiner eigenen Welt. Aber der Vater glaubt ihm nicht, dass wirklich Krieg ist. Was tut Katsurin, der Unternehmer? Er initiiert ein weltweit für Aufsehen sorgendes Dialogprojekt, versucht Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern dazu zu bringen, ihre Verwandten in Russland zu kontaktieren, beraten von Psychologen und Menschen, die Ahnung haben von Verhandlungsführung. Seine Idee: Die Macht der Desinformation durch das Miteinanderreden und Einanderzuhören brechen. Misha Katsurin scheitert, weil im Bombenhagel des Krieges irgendwann auch der Dialog stirbt. Aber seine Versuche, das Gespräch über Propagandamauern hinweg am Leben zu erhalten, sind lehrreich und tief berührend.

Die Herangehensweise, die ich bei all diesen so unterschiedlichen Themen und Geschichten wähle, hätte der Sozialpsychologe Kurt Lewin action research genannt. Sinnliche Empirie, teilnehmende Beobachtung und Vor-Ort-Recherche, das Bemühen, wirklich in das Geschehen einzutauchen, ein Interesse an der Klugheit und manchmal auch Weisheit von Praktikerinnen – darum geht es. Und doch: Es gibt auch ein persönliches, ein privates Erkenntnismotiv, das mir lange nicht wirklich klar ist. Denn Tatsache ist, dass ich selbst in einem entscheidenden Moment meines Lebens nicht wirklich zugehört oder erst hingehört, dann aber vorschnell wieder weggehört habe.

Erneut eine Szene, ein konkretes Bild. Das Jahr 2007, Besuch bei den Eltern in Freiburg. Ich stehe da an der schönen alten Kirschholzkommode im Wohnzimmer, auf der sich stets die neuen, gerade publizierten Bücher finden, die irgendwer mitgebracht hat, blättere in den Erinnerungen des einstigen Reformpädagogik-Stars Hartmut von Hentig. Und bin verstört. Der angeberische Ton, diese „Ich kannte sie alle“-Prosa stößt mich ab, das Namedropping, das voller Selbstverzückung nachzeichnet, mit welchen Berühmtheiten man zu tun hatte. Und mich irritiert, dass ausgerechnet eine Person in dieser Parade der Prominenz seltsam blass erscheint, nämlich der Lebensgefährte Hentigs. Sein Name ist Gerold Becker. Ein pädagogisches Wunderwesen sei er, ein Mann, der auch noch den schwierigsten Kindern helfen könne, so suggeriert Hentig. Aber das ist es dann auch schon. Mir kommt die überanstrengt wirkende Präsentation dieser Heiligenlegende so merkwürdig vor, dass ich mich spontan an den Rechner setze und googele.

Zuhören ist eine hintergründig wirksame Supermacht der Kommunikation

Im Netz wird Becker dann als pädokrimineller Missbrauchstäter kenntlich, der, protegiert von einer mächtigen Bildungselite, als Schulleiter an der Odenwaldschule sein Unwesen trieb. Manche der Jungen hat er, wie man heute weiß, hundertfach missbraucht. Kein Wort von all dem in der Hochglanzstory, die Hentig abliefert, obgleich manche Vorwürfe bereits 1999 in einem Artikel der Frankfurter Rundschau nachzulesen waren, den Jörg Schindler verfasst hat, ein junger Reporter, dessen Arbeit zunächst nahezu ohne jede Resonanz blieb.

Ich befrage nach diesem Lektüreerlebnis ein paar Monate lang Menschen, die Becker und Hentig kennen. Was ist dran an den Recherchen? Wieso hört hier niemand hin? Die Reaktionen: diffuse Formen der Tabuisierung, Ausflüchte, hingehauchte Appelle, die Ekelgeschichte nicht weiter zu verfolgen. Zur Wahrheit gehört, dass ich das Thema dann tatsächlich wieder fallen lasse und erst aufgreife, als Jörg Schindler 2010 noch einmal in der Frankfurter Rundschau nachlegt. Eigentlich veröffentlicht er mehr oder minder denselben Artikel noch einmal: Missbrauch an der berühmten Odenwaldschule! Das ganze Setting ähnelt damit einem faszinierenden medienwissenschaftlichen Experiment, weil man nun Resonanz und Reaktion zu zwei verschiedenen Zeitpunkten vergleichen kann. Und jetzt ist alles anders. Sämtliche Leitmedien steigen in die Berichterstattung ein. Fernsehsendungen und Filme in Serie. Zahllose Artikel. Nun beginnt das Zeitalter der Aufklärung in der Reformpädagogik, allmählich und unter massivem öffentlichem Druck.

Und da ist sie wieder, meine alte Forschungsfrage, nun erneut in veränderter Gestalt. Sie lautet jetzt: Wie entstehen solche Kipppunkte der Wahrnehmung? Wie bildet sich kollektive Zuhörbereitschaft? Warum hört die Welt auf einmal zu? Meine Antwort: Zum einen braucht es couragierte Betroffene und hartnäckige Journalisten, die den Langstreckenlauf der Aufklärung absolvieren, die dranbleiben. Zum anderen hat 2010 ein anderes Medienzeitalter begonnen. Die Betroffenen können sich nun leicht über Blogs vernetzen, sich austauschen, einander Kraft geben, was hier geschieht. Nötig sind schließlich innerhalb der Institution mutige Zuhörerinnen, Inside-Outsider mit Einfluss, die dabei helfen, die Verdrängung zu beenden; genau dies tut die damalige Schulleiterin Margarita Kaufmann mit großem Mut.

2010 implodiert der Genie- und Priesterkult, der in der Reformpädagogik lange beherrschend war, mit einem einzigen, großen Knall. Der Anlass: Tanjev Schultz, damals Reporter der Süddeutschen Zeitung, ein glänzender, unbestechlicher Journalist, befragt den lange umjubelten Hartmut von Hentig zu den Enthüllungen über seinen Lebensgefährten Gerold Becker. Hentig gilt bis dato – eine kleine Zitatlese – als „epochaler Pädagoge“, als „Helmut Schmidt unter den deutschen Pädagogen“, als „großer Mentor aller pädagogischen Erneuerung“, als „Pädagogikpapst“. Eben dieser Hartmut von Hentig verteidigt nun im Gespräch mit Tanjev Schultz den Haupttäter Gerold Becker auf bizarre Weise. Stellt ihn in eine Reihe mit Sokrates und Rousseau. Und lässt ansonsten verlauten, allenfalls sei es für ihn denkbar, dass ein Schüler mal Becker irgendwie verführt haben könnte.

Nach diesem Kommunikations-Desaster – ein klassisches Beispiel der Täter-Opfer-Umkehr – haben die Bewunderer Hentigs im Ringen um Deutungshoheit noch einmal einen letzten, erfolglosen Auftritt. Die Politikerin und Publizistin Antje Vollmer diagnostiziert „journalistischen Missbrauch“ – und meint, man habe den alten Mann „in eine Verhörsituation gebracht.“ Der Schriftsteller Adolf Muschg versteigt sich zu der Behauptung, dass es eine Kampagne gegen Gerold Becker gebe, sich zwischen angemessener Zärtlichkeit und Missbrauch ohnehin nicht wirklich unterscheiden ließe und man ja auch unter Erwachsenen ein „Nein“ nicht als endgültige Antwort akzeptieren müsse – eine Intervention, die der Schriftsteller 2021 im Schweizer Fernsehen zum bloßen Freundschaftsdienst für Hentig verniedlicht, nun um Distanznahme bemüht.

Wie entstehen Kipppunkte der Wahrnehmung? Warum hört die Welt auf einmal zu?

Der Journalist Reinhard Kahl, unter anderem Autor für Zeit und taz, der Hentig lange mit hymnischen Artikeln und Filmen feiert und lobt und seinerseits kräftig von Hentig gefeiert und gelobt wird, fordert in einem eigenartigen Zickzack-Kurs einerseits öffentlich Aufklärung, andererseits erklärt er noch Monate nach Hentigs Absturz in einem sagenhaft peinlichen Artikel der Fachzeitschrift Pädagogik, dass ihn „Hartmut von Hentig häufig an einen Christus erinnert, so leidend und leidenschaftlich, so freundlich und zart, so einfühlend und zerbrechlich“. Hentig selbst vergleicht sein eigenes Schicksal der öffentlichen Verfemung in einem 2011 veröffentlichten Aufsatz mit Sokrates, Jesus und Rousseau. Hat man nicht, so fragt er sich ohne Ironie, auch Jesus „erniedrigt, verhöhnt“, auch Sokrates „verkannt, verleumdet und zu Unrecht verurteilt“, auch Rousseau mit „Verachtung und Verstoßung“ misshandelt? Das alles sind seltsam verrutschte Schmerzensbilder, Symptome einer frei drehenden, aber doch szenetypischen Selbsthuldigung.

Und doch ist dies alles auch gleichzeitig hochgradig aufschlussreich. Denn derlei Gerede enthält die entscheidende Spur, um das Rätsel der wissenden Ignoranz und des fehlenden Zuhörens zu lösen, davon bin ich überzeugt. Tatsächlich lag vieles ziemlich offen da. Die Jungen an der Odenwaldschule sangen Spottgesänge. Im Kreis der Lehrerinnen und Lehrer erzählte man sich Witze, die von kleinen Jungs handelten, die immer im Weg seien, wenn man sich selbst an den verehrten Schulleiter heranmachen wolle. Einmal, da rammten Jugendliche vor dem Haus von Becker, das auf dem Schulgelände lag, über Nacht einen Baumstamm in Gestalt eines Riesenphallus in den Boden. Ein andermal stieß eine Putzfrau auf Kinderpornos, entdeckte den Schulleiter im Bett mit einem Schüler, beschwerte sich, ohne Erfolg. Über Jahre hinweg wollte den Betroffenen niemand zuhören, auch dann nicht, als längst alles in der Frankfurter Rundschau nachzulesen war.

Ich behaupte: Man hielt auch deshalb in den eigenen Bewunderungsgemeinschaften an der Illusion der Grandiosität und der Harmonie der Täuschungen fest, weil der Kontrast zu den selbst erschaffenen Heiligenlegenden unaushaltbar groß gewesen wäre. Eben deshalb schien die Infragestellung so schwer. Eben deshalb lebte man lieber in seinem eigenen Weltbild, aber nicht in der wirklichen Welt mit ihren so verstörenden Geräuschen, Stimmen, Schreien. Was sich hier zeigt, könnte man hagiographische Dissonanz nennen. Hagiographien sind Heiligenlegenden, die sich wie ein Schutzfilm über die Realitätswahrnehmung legen können.

Ein vom Missbrauch Betroffener, auch er auf der Odenwaldschule, hat mich auf diese Idee gebracht. Er berichtete davon, wie er einmal versuchte, sich seinen Eltern anzuvertrauen und ihnen zu erzählen, was ihm geschehen war. Seine Eltern – eine ungewöhnlich aufschlussreiche Formulierung – hätten so reagiert, als habe er „an die Maria gepinkelt“, also eine Heiligenstatue besudelt und beschmutzt.

Die Golden Gate Bridge ist mit Lautsprechern ausgestattet, um Menschen zu erreichen, die runterspringen wollen Foto: Jessica Brandi Lifland/Polaris/laif

Genau das ist es. Man hat rund um die Odenwaldschule, diesen – so schien es – Leuchtturm der Pädagogik, diesen vermeintlichen Zauberberg der Erziehungskunst, jede Menge Heiligenlegenden erschaffen, die im maximalen Kontrast zur scheußlichen Realität des Missbrauchs standen. Je intensiver Verehrung, Anbetung und Selbstverherrlichung, so der hier wirksame Mechanismus, je entschiedener man all dies dann auch noch öffentlich proklamierte, desto größer die selbstverursachte Blindheit und die Unfähigkeit, wirklich hin- und zuzuhören.

Aber warum habe ich selbst, als ich aus einer Intuition heraus recherchierte, erst hingehört, dann weggehört, schließlich wieder hingehört? Die entscheidende Antwort liegt, so wird mir schließlich klar, in meinen eigenen Schulerfahrungen. Denn ich kannte den Kontrast der Bilder, ich kannte den Widerspruch von Sein und Schein, der mich bei der Hentig-Lektüre und der anschließenden Netzrecherche so aufwühlte: Hier der charismatische, vermeintlich phänomenale Pädagoge, da die schaurige Hinterbühnen-Realität. Dieser Kontrast war mir im Prinzip vertraut, wenn auch in Gestalt deutlich weniger gravierender Erlebnisse.

Meine Mitschüler und ich wurden an einer Freien Waldorfschule von einem sadistischen Klassenlehrer terrorisiert, der kein Missbrauchstäter war, aber ein Großmeister der vernichtenden Beschämung, auch er charismatisch, rhetorisch versiert, scheinbar unangreifbar, umschwärmt und bewundert. Er zwang meinen Freund Leon, der in Wirklichkeit wie alle anderen Betroffenen, die ich hier erwähne, anders heißt, sich vor der Klasse zu waschen, bis auch unter den Fingernägeln nichts Schwarzes mehr zu sehen war. Er verspottete ihn, weil seine Eltern, wie er behauptete, zu den Proleten gehörten, arm und dreckig. Er ließ Francesca, die ihre Tage hatte und zu ihrem Unglück eine weiße Hose trug, nicht auf die Toilette, obwohl sie darum bat, bis ihre Hose dann durchgeblutet war und man die Blutflecken sah. Er schickte Niklas vor die Tür, weil er nach dem plötzlichen Tod seines Vaters manchmal nicht mehr aufhören konnte zu weinen und einfach nicht mehr richtig funktionierte.

Auch ich wurde manchmal attackiert und verspottet, verlor allerdings, je länger und intensiver ich in den letzten Jahren mit meinen einstigen Mitschülerinnen und Mitschülern sprach, meine egozentrische Illusion. Anderen war es deutlich schlechter ergangen und nichts von dem, was wir erlebten, ist auch nur im Ansatz mit den Geschehnissen an der Odenwaldschule vergleichbar, darum geht es nicht.

Man versteht im Konkreten und in der direkten Begegnung anders, besser und mehr

Es war die allmähliche Entzifferung dieser Erfahrungen, es waren diese Gespräche, die mir schließlich den entscheidenden Schlüssel lieferten, um den Wechsel vom Ich-Ohr zum Du-Ohr und das Zuhören wirklich zu begreifen. Wir hören, was wir fühlen, so wurde mir klar. Und wir fühlen, was wir selbst erlebt haben, weil sich im Inneren etwas formt, was die Soziologin Arlie Hochschild eine Tiefengeschichte nennt, eine mal rein persönliche, mal kollektiv geteilte Deutungsmatrix aus Erfahrung und Erkenntnis, aus Verbitterung und Scham, die sensibilisiert.

Jeder Mensch trägt seine eigene Tiefengeschichte mit sich herum. Sie wird durch die jeweils besondere Lebenssituation, durch persönliche Erlebnisse und durch kollektive Umstände geformt. Sie macht ihn durchlässig oder lässt ihn in Abwehr, Angst und Leugnung erstarren oder in einen Zwitterzustand hineindriften, der eine erahnte, zunächst nur diffus gespürte Wahrheit umkreist, die man partout nicht wahrhaben und eigentlich am liebsten wieder wegdrücken will, aber der man doch nicht dauerhaft ausweichen kann.

Wirklich hören heißt also auch: etwas in veränderter Form erneut hören. Erkennen bedeutet bis zu einem gewissen Grad immer auch: wiedererkennen, sich in dem, was ein anderer berichtet, spiegeln. Damit ist nicht gesagt, dass man nur zu hören vermag, was man selbst erlebt hat, sondern dass uns das Selbstdurchlebte feinfühliger werden lässt, offener, resonanzfähiger. Das Fremde wird uns zugänglicher, weil es Eigenes berührt, das bei genauerer Betrachtung dann doch wieder ganz anders sein kann. Manche Lebensnarbe ist eigentlich ein Wahrnehmungsorgan. Diese Einsicht ist es, die mir letztendlich hilft, die verstreuten Einzelanalysen und Recherchen zu verknüpfen und nach den Tiefengeschichten im Leben der Menschen zu suchen, denen ich begegnet bin.

Nun setze ich noch einmal anders an, führe mit neuem Fokus erneut Interviews, achte auf biographische Motive, individuelle oder kollektive Schlüsselerlebnisse. Und schreibe, zunächst zögernd, tastend, in bewusster Distanz zu einer entrückten, leblosen Akademikerprosa, ein zweistimmiges Buch – als Wissenschaftler und als Mensch. Das heißt, ich lege im Ringen um ein befreites und befreiendes Sprechen und im Bemühen um eine erfahrungsnahe Sprache meine eigene Ignoranz- und Zuhörgeschichte offen, ordne das Material aus zehn Jahren Recherchearbeit ein allerletztes Mal. Nun ist das Buch geschafft, endlich.

Es ist nicht immer einfach, sein Gegenüber zu erkennen und sich ihm zu öffnen Foto: Lea Suzuki/San Francisco Chronicle/Polaris/laif

Aber das Thema der wissenden Ignoranz bleibt, das weiß ich. Erst vor ein paar Wochen ist mir eine Zeitungsnotiz in die Hände gefallen, die von der Golden Gate Bridge berichtet: Die Zahl der Todessprünge sei inzwischen drastisch gesunken. Denn nach Jahren der Diskussion, nach zähen Phasen des Planens und des Bauens spannt sich entlang beider Seiten der Brücke inzwischen ein 224 Millionen Dollar teures, aus rostfreiem Stahl bestehendes, mehrere Meter breites Auffangnetz über die Tiefe, eine Selbstmordbarriere. Nun macht es einem die Brücke schwer, sich das Leben zu nehmen, endlich.

Mich hat diese Meldung sofort elektrisiert und ich habe Kevin Briggs angerufen, den Meister des existenziellen Zuhörens. Was ist hier passiert, wollte ich wissen. Das ist eine lange Geschichte, so hat er gesagt. Auch sie handelt auf verwickelte Weise vom Zuhören und vom Ende von Verdrängung und Ignoranz, weil doch schon so lange klar war, dass man hätte eingreifen und etwas tun müssen gegen die zahllosen Todessprünge auf der Golden Gate Bridge und Spur der Verwüstung, die ein Suizid im Leben von Menschen zieht.

Diese Geschichte, so Kevin Briggs, erzählt von der schrittweisen Akzeptanz des Leidens der Angehörigen, die endlos für ein solches Netz kämpften, um weiteres Leid zu verhindern, und die es schließlich bauen ließen mit jeder Menge eigens eingeworbener Spendengelder. Nun ist es da. Nun gibt das Netz, das Menschen auffängt und hält, die ihrem Leben ein Ende setzen wollen. Ob wir uns sehen könnten? Vielleicht noch mal oben auf der Brücke wie im Sommer vor ein paar Jahren? Aber klar doch.

Man versteht im Konkreten und in der direkten Begegnung anders, besser und mehr, das habe ich am Ende dieser Erkenntnis- und Wahrnehmungsreise wirklich begriffen. Bald geht es los.

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