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Die Kunst der individuellen Rezeptur

Mit dem Wissen der hiesigen Eingeborenen: Die abendländische Naturheilkunde komponiert für den einzelnen Patienten maßgeschneiderte Heilpflanzenmischungen. Dabei ist Geduld gefragt  ■   Von Andreas Brieschke

Je exotischer das Mittel umso besser, obwohl von fragwürdigem Nutzen und ökologisch problematisch

Pflanzenheilkunde ist eine der ältesten Heilbehandlungen überhaupt. Sie umfasst den gezielten Einsatz von Heilpflanzen bei akuten und chronischen Erkrankungen sowie Aspekte der Ernährung und Lebensführung. Dabei vermeidet sie die schulmedizinischen Einzelmittel mit ihren Nebenwirkungen – seien sie chemischer oder pflanzlicher Herkunft, ohne im Einzelfall ideologisch auf ihrem Standpunkt zu beharren.

Die traditionelle Pflanzenheilkunde arbeitet mit Heilpflanzenmischungen, in denen sich die Wirkung der Einzelkomponenten gegenseitig verstärkt. Die Einbeziehung der Konstitution und der pathophysiologischen Bedingungen eines Menschen mittels Augendiagnose führt zu individuellen Komposition der Rezeptur. Dagegen stellt die Industrie zunehmend hochdosierte Phytopharmaka aus einzelnen Pflanzen wie Johanniskraut her und bedient so eine pseudonaturheilkundliche Schulmedizin mit Umweltengel.

Naturheilkunde ist en vogue. Enttäuscht von einer Medizin der Massenabfertigung und der chemischen Bomben der Pharmaindustrie suchen immer mehr Menschen neue Wege. Die Ausgaben für Selbstmedikation steigen, keine Woche, in der nicht neue Wundermittel auf den Markt kommen und ich den Praxisbriefkasten von den entsprechenden Hochglanzbroschüren befreien muss. Je exotischer die Mittel desto besser, obwohl häufig von fragwürdigem Nutzen und oft ökologisch problematisch. Die Sehnsucht des urbanen Menschen treibt die Schatzsucher der Industrie in die letzten Refugien nativer Völker.

Ich folge seit längerem in Theorie und Praxis einem anderen Weg, weder exotisch noch neu: der Pflanzenheilkunde europäischer Tradition, man könnte sagen dem Wissen der hiesigen Eingeborenen. Selbstvertrauen in die eigenen Heilpflanzen und eine gewachsene Tradition von Volksmedizin und Heilanwendungen zu entwickeln und zu verbreiten, ist ein Ansatz der individuell und sozial zur Wirkung kommt. Die Heilpflanzen sind im Akutfall eine preiswerte Möglichkeit der Selbstmedikation ohne die Nebenwirkungen der chemischen Präparate.

Im Falle funktioneller und chronischer Krankheiten wie Allergien, Hautproblemen, Migräne, rheumatischer Formenkreis oder Schilddrüsenproblemen bedarf es einer kundigen Verordnung. Der Respekt vor der körperlichen Einzigartigkeit jedes Menschen erfordert eine maßgeschneiderte Rezeptur. Ein lebendiges Bild der Reaktionsbereitschaft (Konstitution) und der Krankheitsbereitschaft (Disposition) eines Menschen ergibt die Augendiagnose. Sie erweitert die starren Momentaufnahmen der Labordiagnostik und der bildgebenden Verfahren wie Röntgen oder CT zu einem lebendigen Bild des ganzen Menschen.

Bei der Betrachtung des Auges haben wir die Möglichkeit die Grundelemente des Körpers wie Bindegewebe, Muskulatur und Nerven in ihrem lebendigen Zusammenspiel zu beobachten. Die Beurteilung der Phänomene von Farbe, Form und Struktur gibt diagnostische Hinweise auf Konstitution und Disposition. Aus den gebräuchlichsten etwa 500 Heilpflanzen lässt sich so eine unendliche Fülle von Medikamenten erstellen. Eine Heilpflanzenmischung verbindet Pflanzen für den Akutzustand mit konstitutionell, also individuell wirksamen.

Zur Veranschaulichung ein einfaches Beispiel aus der Praxis: drei Patienten mit akuter Bronchitis. Die Heilpflanzentherapie hat verschiedene Forderungen zu erfüllen: Erstens Reizmilderung: Hier bieten sich Pflanzen mit Schleimen an wie zum Beispiel die Eibischwurzel. Zweitens Auswurfförderung: Der zähe Schleim wird durch Saponine gelöst etwa die der Schlüsselblume. Drittens Desinfizierung: Durch bakterizide ätherische Öle wie das Thymol des Thymians. Selbstverständlich gibt es noch eine Reihe weiterer Pflanzen, die für diesen „Hustentee“ verwendbar sind und teilweise gleich mehrere der genannten Aspekte abdecken. Auch hat jede der genannten Pflanzen noch weitere Wirkungen, so kräftigt der Thymian gleichzeitig die Verdauung.

Die Individualisierung der Rezeptur erfolgt durch die konstitutionelle Betrachtung. Ergänzend zu den drei Akutpflanzen Eibisch, Schlüsselblume und Thymian erhält der erste Patient wegen der vorhandenen Schwäche des Bindegewebes eine mineralreiche Pflanze mit Lungenbezug zum Beispiel Vogelknöterich, der zweite mit leberbezüglicher Konstitution eine ausleitende Leberpflanze wie den Löwenzahn, der dritte mit Übersäuerung Brennessel. In ähnlicher Weise kann auf weitere Schwächen eingegangen werden. Patient 1 erhält etwa wegen häufiger Blasenprobleme Goldrute. Die Rezeptur wird so immer individueller ohne die aktuelle Forderung zu missachten, sie wird wirksamer, kostengünstiger und gut verträglich. Das Gesamtkunstwerk individuelles Teerezept ist entstanden. Die tägliche Praxis zeigt, dass auf diesem Wege mit der Zeit eine tief greifende Umstimmung des Gesamtorganismus und damit eine Verbesserung auch schwer wiegender Zustände erreichbar ist, bei allem gebotenem Realismus. Hier ist der Patient im Wortsinn gefragt als der Geduldige. Bei der Behandlung chronischer Krankheiten wird man etwa alle vier Wochen eine neue Mischung zusammenstellen, um der veränderten Situation gerecht zu werden und Gewöhnungseffekte zu vermeiden.

Der Autor arbeitet als Heilpraktiker, in der Naturheilpraxis Mitte, Linienstraße 119, 10115 Berlin, Tel.: 280 98 08. Bei den Gesundheitstagen hält er am Samstag, 13. 11., 10 bis 11.30 Uhr, einen Vortrag zum Thema.

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