Die Koalitionsverhandlungen in Österreich sind gescheitert: Zwischen Chance und Abgrund
Sechzehn qualvolle Wochen hatte die Sozialdemokratische Partei Österreichs versucht, die widerstrebende Österreichische Volkspartei zu einer Verlängerung der Koalitionsregierung zu überreden. Um dieses Ziel zu erreichen, warf die SPÖ praktisch alles, was an sozialdemokratischen Prinzipien noch da gewesen war, über Bord. Jungsozialisten und Gewerkschafter drohten bereits mit Rebellion. Aber auch in der Parteiführung fragten sich viele, was von der Identität der Partei noch bleibt.
Das in den frühen Morgenstunden des Freitag ausgesprochene Nein des Parteipräsidiums zu weiteren Konzessionen an die ÖVP kam wie ein Befreiungsschlag. Nach 13 Jahren Koalition haben sich die beiden Parteien, die seit 1945 als Säulen der Zweiten Republik fungierten, nichts mehr zu sagen. Dass Bundeskanzler Viktor Klima seinen Verhandlungspartner Wolfgang Schüssel über den Bundespräsidenten Thomas Klestil bitten ließ, ihn nicht weiter zu demütigen, sagt wohl alles über die Stimmungslage.
Eine Neuauflage von Rot-Schwarz hätte unter diesen Vorzeichen genau das bewirkt, was sie verhindern sollte: nämlich die Machtergreifung der FPÖ mit Jörg Haider als Bundeskanzler. Was immer hinter den verschlossenen Türen der Verhandlungsräume tatsächlich gelaufen ist: Den Schwarzen Peter für das Platzen des unterschriftsfertigen Koalitionspakts hat Wolfgang Schüssel. Das wird die ÖVP bei den unvermeidlichen Neuwahlen zu spüren bekommen.
Die SPÖ hätte jetzt die Gelegenheit, zu ihrem traditionellen Profil zurückzufinden, das sie durch die Anbiederung an die Christdemokratie verloren hat, und damit an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Allerdings sind ihr in einer Minderheitsregierung, die sich als Notlösung abzeichnet, die Hände gebunden. Um das Budget durch das Parlament zu kriegen, ist sie auf die Stimmen von ÖVP oder Freiheitlichen angewiesen. Keiner von beiden wird ein linkes Programm überleben lassen, auch wenn es vernünftig sein sollte. Also passt sich die SPÖ an das Diktat der Mehrheit des Bürgerblocks an, oder sie wird gestürzt.
Wenn die SPÖ, die längst nur mehr durch eine klare ideologische Ausrichtung, sondern allein durch die Macht zusammengehalten wird, nach 30 Jahren in der Opposition landet, läuft sie Gefahr, durch die inneren Widersprüche ebenso zu implodieren wie die Kärntner Landespartei, die den Abschied von der Macht nicht verkraftet hat. So oder so: Das Ende der sozialdemokratischen Ära ist in Sicht.
Ralf Leonhard
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