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Die Kinkel-Initiative ist endgültig gescheitert

Eine kleine Chronik des Scheiterns: Zum zweiten Mal verpassen die Politiker und die Behörden die vielleicht einmalige Chance, den Weg für ein politisches Ende des RAF-Terrorismus zu eröffnen  ■ Von Wolfgang Gast

„Keine Gefangenen – keine RAF mehr“. Das war die feste Überzeugung des früheren Hamburger Verfassungsschutzchefs Christian Lochte. Der streitbare Behördenleiter stand mit seiner Auffassung nicht alleine da – die Schlußfolgerungen, die aus dem Satz erwuchsen, wurden auch im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz mitgetragen.

Wie Lochte vertrat dessen damaliger Präsident Gerhard Boeden die Ansicht, daß das intellektuelle Potential der Roten Armee Fraktion längst verfallen sei, sich die Existenz der RAF nur noch aus der Existenz ihrer Gefangenen ableiten lasse. Die RAF, einst angetreten, um als Avantgarde ein Ende der Ausbeutungsgesellschaft einzuläuten, könne bestenfalls noch als „Befreit-die-Gefangenen- Guerilla“ bezeichnet werden. Die daraus abgeleitete These: Gelänge es, der RAF das „Propagandainstrument“ Gefangene und Haftbedingungen zu nehmen – die Guerilla müßte anschließend kapitulieren, quasi von alleine aufhören zu existieren. Lochte und Boeden setzten in ihrer Analyse auf die Beobachtung, daß seit Jahren ausschließlich Personen zur RAF in den Untergrund stießen, die sich zuvor intensiv mit den Haftbedingungen der Gefangenen beschäftigt hatten. Unter dem Eindruck der jahrelangen Mißerfolge in der Fahndung entstand so in der Spitze der Verfassungsschutzbehörden die Idee, Entspannungspakete für die Häftlinge zu schnüren. Ein erster Schritt, der den „Mythos Gefangene“ brechen sollte: deren Zusammenlegung in Kleingruppen.

Als die RAF-Gefangenen im Frühjahr 1989 einen Hungerstreik begannen, mit dem sie ihre Zusammenlegung in zwei große Gruppen erzwingen wollten, versuchten sie – anders als in den Hungerstreiks zuvor – zur Veränderung ihrer Haftsituation auch die Unterstützung linksliberaler und liberaler Kreise zu erlangen. 100 Tage dauerte das Fasten, in dessen Verlauf mehrere der Inhaftieren in Lebensgefahr schwebten. Die Forderung nach einer Zusammenlegung erreichte eine vergleichsweise breite Unterstützung – zu realen Veränderungen führte dies aber nicht. – Mit dem Abbruch des Hungerstreiks blieb den Häftlingen nur eine Zusage des damaligen Staatssekretärs im Justizministerium. Klaus Kinkel versprach, sich eine Ebene unterhalb der offiziellen und damit öffentlichen Politik für eine Zusammenlegung der rund zwei Dutzend RAF-Gefangenen in kleineren Gruppen einzusetzten. Das Engagement des heutigen FDP-Chefs, der während des Hungerstreiks mit den Gefangenen Helmut Pohl und Brigitte Mohnhaupt verhandelt hatte, war davon getragen, daß auch er glaubte, am Ende eines Entspannungsprozesses würde ein Ende des bewaffneten Kampfes stehen.

Die Bemühungen des damaligen Staatssekretärs stießen allerdings auf zähen Widerstand. Pläne, etwa die in Bayern und Baden- Württemberg inhaftierten Gefangenen erst in ein SPD-regiertes Bundesland zu verlegen, um sie anschließend in Kleingruppen zusammenzuführen, scheiterten am Widerstand der Landesjustizminister. Kinkels Werben um weitere Zeit für seine Bemühungen wurden schließlich jäh unterbrochen, als am 30. November 1989 der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, einem Sprengstoffanschlag der RAF zum Opfer fiel. Aus der Sicht der Sicherheitsbehörden hatte der Sprecher des Gefangenenkollektivs, der im hessischen Schwalmstadt einsitzende Helmut Pohl, mit einem kurz zuvor veröffentlichten Brief den von den Inhaftierten verordneten Waffenstillstand („Wir lassen wieder los“) aufgekündigt.

Der Mord an Alfred Herrhausen markierte eine Zäsur. Der erste Versuch, über eine politische Lösung zu einem Ende des RAF- Terrorismus zu kommen, war gescheitert.

Mit dem knapp fehlgeschlagenen Attentat auf den Bonner Innenstaatssekretär Hans Neusel am 27.Juli 1990 und der Erschießung des Vorsitzenden der Treuhand-Anstalt, Detlev Karsten Rohwedder, am 2.April 1991 dokumentierte die RAF erneut ihre Fähigkeit, auch bestbewachte Spitzenvertreter aus Wirtschaft und Politik „angreifen“ und töten zu können. Dieses „Können“ führte dazu, daß die Verfechter eines Entspannungsversuches unerwartet Unterstützung erhielten. Die Spitzen der Wirtschaftsverbände wandten sich an Bundeskanzler Helmut Kohl und forderten angesichts der mangelnden Fahndungserfolge alternative Konzepte zur Terrorismusbekämpfung. Kohls Plazet dafür war Ausgangspunkt dessen, was heute als „Kinkel-Initiative“ in der Öffentlichkeit bekannt ist.

Ein neuer Anlauf für eine Zusammenlegung der RAF-Gefangenen kam nach den Erfahrungen mit der starren Haltung der Bundesländer nicht mehr in Frage. In der nach dem Rohwedder-Mord gegründeten „Koordinierungsgruppe Terrorismus-Bekämpfung“ (KGT) wurde daraufhin als Alternativkonzept die vorzeitige Haftentlassung einzelner Inhaftierter diskutiert und favorisiert. Im rechtlich zulässigen Rahmen sollte überprüft werden, ob die Verurteilten nach der Verbüßung von zwei Dritteln ihrer Haftstrafe beziehungsweise ob die zu lebenslanger Haft Verurteilten nach 15 Jahren aus der Haft entlassen werden könnten. Die Überlegungen fußten nach wie vor auf der Einschätzung, an der Gefangenenfrage entscheide sich die weitere Existenz der RAF.

Jahre zuvor hatte die Rote Armee Fraktion diskutiert, ihre inhaftierten GenossInnen gewaltsam zu befreien und von einer „big raushole“ gesprochen. Jetzt kursierte in der KGT der Begriff von der „big rausschmeiße“.

Offiziell wurde die neue Initiative verkündet als Kinkel – inzwischen zum Bonner Justizminister aufgestiegen – auf dem traditionellen Stuttgarter Dreikönigstreffen der FDP Anfang letzten Jahres erklärte, auch der Staat müsse eine Aussöhnung mit der RAF versuchen; es gelte, den unheilvollen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen.

Die Hoffnung auf eine politische Lösung wurde untermauert, als die Illegalen der RAF am 10.April 1992 in einem Schreiben erklärten, zukünftig auf Attentate gegen führende Repräsentanten aus Politik und Wirtschaft verzichten zu wollen. Die RAF konstatierte, mit ihrem bewaffneten Kampf gescheitert zu sein. Sie kündigte an, sich zukünftig dem „Aufbau einer sozialen Gegenmacht von unten“ widmen zu wollen. Wenige Tage später gab auch Irmgard Möller im Namen der RAF-Gefangenen eine gleichlautende Erklärung ab. Der Weg schien damit frei, über die auf staatlicher Seite angedachte Haftentlassungsinitiative zu einem Ende des RAF-Terrorismus zu kommen. Als Ausdruck einer neuen Politikfähigkeit wurde bei den Sicherheitsbehörden auch gewertet, daß nunmehr nicht die bedingungslose Freilassung der Gefangenen gefordert wurde, sondern die „Perspektive Freiheit und Zusammenlegung bis dahin“.

Das Tor auf dem Weg zu einer politischen Lösung stand im Frühling letzten Jahres sperrangelweit offen – doch die Bemühungen der in der KGT versammelten Sicherheitsexperten wurden durch die Behörde des Generalbundesanwaltes in Karlsruhe regelrecht sabotiert. Auf Grundlage der Aussagen der in der DDR festgenommenen RAF-Aussteiger wurden neue Prozesse gegen ohnehin schon zu lebenslanger Haft verurteilte Gefangene eingeleitet. Dies hatte zur Folge, daß für sie eine vorzeitige Haftentlassung nicht mehr in Frage kam. Von den Gefangenen, für die die rechtlichen Voraussetzungen für eine vorzeitige Entlassung in Frage kamen, forderte die Bundesanwaltschaft ein Abschwören von Gewalt in jeglicher Form – mit der Folge, daß die zuständigen Gerichte die Anträge auf Haftentlassung geradezu verwerfen mußten, als die Gefangenen das geforderte Ritual verweigerten.

Parallel dazu nahm der politische Wille für unkonventionelle Wege drastisch ab. Ausdruck war die Rücknahme der bereits zugesagten Begnadigung des schwer erkrankten RAF-Gefangenen Bernd Rößner durch den Bundespräsidenten. Ursache dafür war ein Signal aus dem Bundespräsidialamt, wonach es seitens des Bundeskanzleramtes keine Rückendeckung mehr für den früher beschlossenen Schritt gebe. Rößners Haftentlassung war dann der Intervention der gerade neu ins Amt eingeführten Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger geschuldet. Die Ministerin ordnete eine 18monatige Haftentlassung an, damit sich Rößner in Therapie begeben konnte. Hinter ihrem Schritt stand die Befürchtung, eine weitere Haft Rößners könnte als Abkehr von der Kinkel-Initiative interpretiert werden und in der Folge könnte die RAF ihren ausgesprochenen Gewaltverzicht zurücknehmen. Zuvor hatte die RAF erneut Handlungsfähigkeit bewiesen, indem sie am 27.März den Gefängnisneubau im hessischen Weiterstadt sprengte und einen Sachschaden von rund 100 Millionen Mark verursachte. Mit dem perfekt durchgeführten Anschlag erhöhte die Kommandoebene aus ihrer Sicht den Druck für eine Freilassung ihrer inhaftierten GenossInnen, ohne dabei den neu eingeschlagenen Weg „Aufbau einer Gegenmacht von unten“ zu verlassen.

Der mangelnde Wille, dem eigenwilligen Treiben der Karlsruher Bundesanwälte Einhalt zu gebieten, läßt sich rückblickend nur mit der Existenz des rheinland- pfälzischen V-Mannes Klaus Steinmetz erklären. Mit Steinmetz war es den Verfassungsschutzbehörden zum ersten Mal gelungen, einen Informanten an die Kommandoebene der RAF heranzuspielen. Der Bonner Staatssekretär im Innenministerium, Hans Neusel, wurde am 8.April 1992, zwei Tage vor der Deeskalationserklärung der RAF, über den Top- Mann der Verfassungsschützer unterrichtet. Der Wille zu unkonventionellen Wegen in der Terrorismusbekämpfung stützte sich bis zu diesem Zeitpunkt auf die jahrelangen Mißerfolge in der Fahndung. Jetzt sahen die politischen Entscheidungsträger in Bonn offenbar keine Notwendigkeit mehr, zweigleisig zu verfahren.

Folgerichtig setzten Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt alles daran, über den Informanten zu vorzeigbaren Fahndungserfolgen zu gelangen. Generalbundesanwalt von Stahl zog am Ende die Aktion an sich – die geplanten Festnahmen mündeten aber am 27.Juni auf dem Umsteigebahnhof in Bad Kleinen in einem mörderischen Fiasko: der 25jährige GSG-9-Beamte Newrzella vom RAF-Mitglied Wolfgang Grams erschossen, der V-Mann enttarnt, darüber hinaus steht seitdem der böse Verdacht im Raum, daß Mitglieder der Eliteeinheit des Grenzschutzes den bereits überwältigten Grams noch auf den Bahngleisen vorsätzlich töteten. Was als größter Fahndungserfolg der letzten Jahre gefeiert werden sollte, wuchs zur Staatskrise aus. Innenminister Seiters trat zurück, der Generalbundesanwalt wurde entlassen, der Vizechef des BKA in die Wüste geschickt. Bad Kleinen bedeutete aber auch das endgültige Scheitern der Kinkel-Initiative. Aus Sicht der RAF, ihrer Gefangenen und UnterstützerInnen mußte die Initiative nachträglich als Versuch interpretiert werden, hinhaltend auf Zeit zu spielen – wobei der so gewonnene Spielraum ausschließlich zur Fahndung genutzt wurde.

Das Schreiben des RAF-Gefangenen Helmut Pohl vom 27.August dokumentierte das Scheitern. Im Namen der am längsten in Haft befindlichen Gefangenen erklärte er, es werde mit ihnen – in welcher Form auch immer – keine Neuauflage der Kinkel-Initiative geben. 18 Monate nach der spektakulären Ankündigung des FDP-Chefs und zwei Monate nach der Schießerei in Bad Kleinen erteilte Pohl allen Versuchen, über die juristische Einzelfallprüfung die Gefangenenfrage lösen zu wollen, eine klare Absage. Der Schlüsselsatz seiner Erklärung, der von den Sicherheitsbehörden als mögliche Rücknahme der Deeskalationserklärung gewertet wird: „Die bewaffnete Aktion und die Militanz wird einfach in unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Konfrontationen und in allen möglichen Formen stattfinden. Egal, was die RAF oder Gefangene sagen.“ Sein Schreiben machte darüber hinaus erstmals öffentlich, daß es ein Kollektiv der RAF-Gefangenen so nicht mehr gibt.

Alle Seiten, urteilt ein Fachmann, müssen nun „mit der neuen Situation der Unübersichtlichkeit fertig werden“. Die Chancen, nach Bad Kleinen den Entspannungsprozeß wieder aufnehmen zu können, werden nun von den Verfechtern eines politischen Lösungsansatzes skeptisch bewertet. Der Kölner Verfassungsschützer Eckart Werthebach befand Ende vergangener Woche: „Die durch die Erklärung der RAF von 1992 ausgelöste große Chance einer Lösung besteht inzwischen so wohl nicht mehr.“ Das Superwahljahr 1994 vor Augen, sehen die Verfassungsschützer in Bund und Ländern zusätzlich als Dilemma kommen, von der politischen Ebene keine Unterstützung erwarten zu dürfen. Neue Signale, heißt die nüchterne Wertung, könnte deshalb nur die „fachliche Ebene“ aussenden – und hier kommt wiederum nur die Bundesanwaltschaft in Frage.

Ob der Weg über juristische Einzelfallprüfungen völlig verbaut ist, zeigt sich in Kürze. Das Landgericht Lübeck muß über eine vorzeitige Haftentlassung der seit mehr als 20 Jahren inhaftierten Irmgard Möller entscheiden. Sollte das Gericht ablehnen, bliebe wie bei den Ablehnungen anderer Gerichte als einzige Alternative zur Fahndung nur noch der Weg über „Gnadenerweise“. Und dafür ist der Bundespräsident Richard von Weizsäcker zuständig, der im Mai nächsten Jahres sein Amt aufgeben wird.

Mit Ankündigungen allein wird sich ein Entspannungsversuch nicht wieder aufnehmen lassen. Weichenstellung wird sein, wer als neuer Generalbundesanwalt berufen und wer zum Nachfolger des in Pension gehenden Behördenvizes Löchner ernannt wird. Als Signal werden RAF und deren UnterstützerInnen auch nicht nur die Frage der Haftentlassung Irmgard Möllers werten. Entscheidend wird weiter sein, ob der kranke Bernd Rößner im kommenden März, wenn seine befristete Haftentlassung zu Ende geht, wieder in den Strafvollzug zurückgeschickt wird.

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