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Die Jahrhundertamnestie ■ Von Helmut Höge
1994 und 1995 schrieb ich an dieser Stelle über den Savignyplatz – und jedes Mal bekam ich harsche Briefe vom Zwiebelfisch-Wirt Hartmut „Kappi“ Volmerhaus. Das erste Mal ging es um den dort verstorbenen Stammkunden – unser großes Vorbild – Oskar Huth und beim zweiten Mal um einen Lokalroman des SFB-Redakteurs Aras Ören.
Zuvor war der Ex-Apotheker und Zwiebelfisch-Wirt Bernd Fahr gestorben und der Café-Kaputt-Chef „Kappi“ sein Nachfolger geworden. Viel ist dort seitdem gestorben. In der Dicken Wirtin verkehren nur noch langweilige Banker. In der Krawallkneipe Schumanns Bierstuben steht jetzt ein wohl temperiertes Klavier. Die „Hegel“-Wirtin Lucinka klagt über die neuen Russen. Die meisten der einst gemütlichen „Rentnerkneipen“ gehören inzwischen Indern oder Italienern und sind vornehm und vegetarisch geworden.
Umgekehrt gab der erste Italiener dort seine Kneipe an zwei Filmfilm-Frauen ab, die daraus das Florian machten. Er war 1936 zur Olympiade nach Berlin gekommen und hatte in seinem Dorf zuvor verkündet: „Wenn ich nicht gewinne, kehre ich nicht zurück!“ Er gewann nicht und eröffnete 1937 bereits die Kneipe, deren Tür er nach dem Krieg stets verschlossen hielt: „Man musste klopfen und wurde nur hereingelassen, wenn man Stammkunde war, ich traf mich dort immer ungestört mit einer Tänzerin“, erinnert sich ein Satanist, dessen Galerie dort ebenfalls nicht mehr existiert.
Im Bordell Club Sophie zerschlug derweil die dralle Meißner Zierblumengärtnerin Julia ihr Porzellan. Und in der Passage mussten die Reichsbahn-Lesben samt ihren Lotterliteraten ebenfalls Schlickigem weichen: Ihre S-Bahn-Quelle wird jetzt von Schickimickis frequentiert. Ãhnlich sieht es in der von Michel und Ossi Wiener – den ersten Wien-Flüchtlingen – einst eröffneten Paris-Bar aus. Wenn diese – erst von HdK-Professoren und dann von Jungen Wilden propagierte – alte Edel-Bar nunmehr zu einem Zentrum der Herzattacken geworden ist, dann wurde der Zwiebelfisch zur unsicheren Etappe der Magengeschwüre.
Dazu trägt auch der zappelige, immer zu heftige Interimswirt Hartmut bei, indem er beim kleinsten Anlass Lokalverbot erteilt. Mindestens ein Dutzend Gäste ist davon bereits betroffen: „Alles ruhige, gestandene Trinker, durchweg honorige Leute!“ laut Einschätzung der Gelegenheitstrinkerin Gabriele, die das unmöglich findet. „Und laufend kommen neue dazu. Kappi macht immer den Nachtdienst und ist ständig mit seinen Zetteln hinter der Theke beschäftigt, wo die Namen der in Ungande gefallenen Gäste draufstehen.“
Damit der einstmals ungeheuer ausbalancierte Savignyplatz-Mix „brav und böse“ nicht vollends kippt, hat das dortige (illegale) Gebietskomitee nun nicht minder hektisch beschlossen, bis zur großen Silvesterfeier eine Generalamnestie - für alle verdonnerten Zwiebelfisch-Gäste durchzusetzen.
Für diese Jahrhundertamnestie brauchen sie jedoch noch jede Menge Helfershelfer; wer volontieren will, melde sich umgehend unter savigny@zwiebelfisch.de. Das Engagement kann über die so genannte Ehrenamtlichkeits-Pauschale bei den Sozialämtern von Charlottenburg und Wilmersdorf abgerechnet werden. Dort hofft man im Übrigen auch auf einen glücklichen Ausgang dieser frivolen Freiwilligeninitiative. Bereits ab 1 Uhr am 1. 1. 2000 bekommen alle, die Lokalverbot hatten, im Zwiebelfisch einen Begrüßungssekt und einen Wiedergutmachungs-„Berliner“ gereicht.
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