Die Hausbergkante ist unser Königgrätz

Als Trost für die unumgängliche Bedeutungslosigkeit ihrer Nation wurde den Österreichern in einem Nebenprotokoll in Jalta die Vorherrschaft in einer unbedeutenden Sportart zugesichert: dem Schifahren. Am Sonntag wird in St. Anton die Schi-WM eröffnet. Gewinnen dürfen wieder nur Österreicher

von FRANZOBEL

Österreich darf keine Kriege führen, erst seit kurzem gibt es wieder einen österreichischen Film. Nicht einmal ein Weltraumzentrum haben wir. Nur Wald und Wasser, ungeheure Reserven. Was also tun? Wen anhimmeln? Wen erotisieren, wenn Wilderer und Jäger nicht in Mode sind? Die mit den künstlich verlängerten Füßen, Hermann mit den Stöckehänden, Renate mit Zweimeterfüßen, Sturzhelmköpfe? Ja. Mensch gewordene Pokémons, die die Alpen, die Krampfadern der Erde, hinunterwetzen. Die auf Wasser reiten können, auch wenn es gefroren ist.

War das schon immer so? Deutlich erinnere ich mich an den ersten von mir erlebten Schmelztag österreichischer Nation. Alle sind wir zerronnen, ein Franz Klammer obenauf. Mag sein, dass die olympischen Winterspiele 1976 ein Fenster in die Welt auftaten, und die Welt durch dicke Glasschichten hindurch ein verschwommenes Stück Innsbruck sehen konnte. Die österreichische Schi-Euphorie hat bei dieser Veranstaltung sicher einen Siedepunkt erreicht. Alles hat gebrodelt und gekocht. Schifahrer, die idealen Ideale Österreichs.

Fensterkitt der Nation

Für mich als Volksschüler waren Schifahrer die Fensterlaibungen der Nation: breit, schwitzend und notwendig. Mancherorts etwas rissig, im Charakter Kitt. Noch heute werden Franz Klammer und Annemarie Moser verehrt. Noch heute klingen Namen mancher Streckenstücke wie Stätten historischer Bedeutung: Österreicherloch, Hausbergkante, Mausefalle, Haneggschuss, Gaserlnhang etc. sind die modernere Version von Königgrätz und Mayerling. Nur Schaslad klingt sonderbar.

Wer die politischen Zustände Österreichs erkennen will, muss sich nur die Fotowände in den Landgasthäusern ansehen. Schifahrer überall. Noch immer triefen die Fensterpölster meiner Erinnerung mit Namen einstiger Größen: Monika Kaserer, Jimmy und Roswitha Steiner, Christian Orleinsky, Fabienne Serrat, Fausto Radici, die Tlalka-Schwestern, Ken Read, Christian Heidegger und viele andere tropfen da hervor, verklumpen sich. Der Annemarie habe ich den Pröll übrigens ebenso wenig jemals verziehen wie dem Cassius Clay den Ali oder der Birgitte Habersatter den Totschnig.

Mich hat erschüttert, dass Franz Klammers Bruder nach einem Schiunfall querschnittgelähmt war. Sepp Walcher. Rudi Nierlich. Ulli Meier. Tote, Monate im Koma. Begeistert hat mich Ingemar Stenmark, der einst seine Trainingsgeheimnisse lüftete: Schnurspringen, Balancieren auf Baumstämmen, Zirkeltraining und Gleichgewichtsübungen. Wie viele Nachwuchsläufer werden wohl nach genau diesen Methoden trainiert haben, von denen Stenmark später selbst bekannte, er hätte sie erfunden. Aus Jux, um mit den Reportern Schlitten zu fahren.

Bald darauf hat das Schifahren seine Unschuld verloren. Das Material wurde immer wichtiger, im Weltcup begann man mit Streichresultaten, man hat den Super-G erfunden, die Schneekanonen, jetzt musste es nicht einmal mehr noch schneien, im Gegenteil. Und die große Zeit der Österreicher war auch vorbei. Pirmin Zurbriggen, Alberto Tomba, Katja Seizinger.

Gut, es ist einzusehen, dass auch Nichtösterreicher hin und wieder das eine oder andere Rennen gewinnen, schon deshalb, weil ansonsten alle anderen das Interesse am Alpinsport komplett verlieren, aber übertreiben dürfen sie natürlich nicht. Sonst geht der eigentliche Sinn der Schifahrerei verloren. Die Prägung der österreichischen Nation, ein Volk von Thermoskannen.

Auf der Konferenz in Jalta wurde in einer Nebensatzung beschlossen, die Österreicher für ihre unumgängliche Bedeutungslosigkeit damit zu entschädigen, dass man sie zu Beherrschern einer eigentlich bedeutungslosen, ihnen aber groß erscheinenden Sportart macht. Die populären Disziplinen kamen natürlich nicht in Frage, also wurden Segeln, Rodeln und Federball vorgeschlagen. Schifahren ist es geworden. Gut, es hätte schlimmer kommen können, Schibob, Bergsteigen oder Synchronschwimmen.

Es galt also, eine Sportart so zu etablieren, dass alle Österreicher glaubten, sie wäre von weltweitem Belang, obwohl seltsamerweise nur Österreicher, Schweizer und Lichtensteiner gewannen und sogar der Überbegriff „alpin“ ein verräterisches Lokalkolorit erkennen ließ. Es ist geglückt. Schifahren ist eine nationale Angelegenheit. Ein österreichischer Rosenkranz. Politiker stehen im Zielraum, Messen werden gelesen. Sogar Bundesheersoldaten werden zur Ausrichtung von Weltcuprennen abgestellt, was ich immer als besondere Sauerei empfunden habe.

Noch heute wird den Österreichern vermittelt, ihre Schifahrer hätten internationalen Bekanntheitswert, was natürlich ein kompletter Unsinn ist. In anderen Ländern ist es unmöglich, Ergebnisse von Schirennen überhaupt zu erfahren. In anderen Ländern ist Schifahren ein Exotensport.

Rosenkranz statt Eleganz

Schifahren? Ein Sport, dem es nur darum geht, eine Strecke möglichst schnell zu bewältigen, kann unmöglich reizvoll sein. Er hat ein bisschen etwas Pubertäres, schnell, schnell muss es gehen, wer am schnellsten im Ziel ist, hat gewonnen. Schifahren hat etwas vom Quickie, keine Zeit nehmen für nichts. Keine Anmut, keine Eleganz, nichts. Vergleicht man Sportarten mit Tanz, dann entspricht das Schifahren wohl dem Hüpfen.

Dagegen Fußball, das ist Tango, es geht um Taktik, geht um Denksysteme, Schrittkombinationen, kleine Zeichen, Strategie und Glück, um Schwung und Harmonie, man kann darin eine Allegorie des Lebens sehen. Fußball ist die verfeinerte Form von Kommunikation. Tennis ist die raffinierteste Form des Dialogs. Tennis ist wie Samba. Aber Schifahren? Schifahren, vor allem Abfahrt, das ist Vogerltanz, etwas für Autisten, ohne Kommunikation, ohne Bluff, etwas für Sturschädel.

Aber irgendeinen Reiz muss es doch haben? Wie Autorennen hat auch das Schifahren etwas Beruhigendes. Panoramablick, es passiert nicht viel, ist kontemplativ wie Rosenkranzbeten. Und ab den hinteren Startnummern erfährt man auch so manches, Geschichten von bulgarischen Studienabbrechern, die sich das Training selbst finanzieren, Verletzungen, deren Auflistung ein halbes Anatomiestudium ersetzt, Gescheiterte, Hoffnungsträger, und alles eingebettet in den herrlichen Dialektflaum der Co-Kommentatoren.

Nie sonst ist der Dialekt so präsent wie bei Schiübertragungen. Und wehe, die Sportler halten sich nicht auch daran. Urwüchsig müssen sie sein, kernig und wild – wie jene Klassenstärksten, die sich darum stritten, wer in einer Zehnerpause die meisten Mitschüler über den Schulzaun werfen konnte. Jahrelang hat man es Anita Wachter nicht verziehen, dass sie über eine Sommerpause von ihrem breiten Vorarlbergerisch ins Hochdeutsch gewechselt ist.

Das ist fast so schlimm wie der Verrat der Petra Kronberger, die am Beginn ihrer aussichtsreichen Karriere erkannt hat, dass es Wichtigeres gibt im Leben, als, wie Niki Lauda sagen würde, einen Berg auf zwei Brettern hinunterzufahren. Sie hat den Sturzhelm an die Wand gehängt und Kunstgeschichte studiert. Vielleicht ist sie jetzt arbeitslos. Egal. Sie interessiert die Medien nicht mehr. Jemand, der die Grundfeste des Sports derart missachtet, bleibt für immer geächtet.

So etwas darf nicht passieren. Aber irgendetwas muss passieren, denn irgend einen Reiz muss dieses Schifahren ja wohl haben. Ist es die Lust an einer eventuellen Katastrophe? Am plötzlichen Versprecher, am Umböckeln beim Tanz?

Katastrophen legen etwas frei, was wir nicht begreifen, etwas kulminiert, bricht aus, und macht uns lachen. Jede Katastrophe sagt uns, es ist etwas Schreckliches passiert, aber wir haben es überlebt. Grausame Schicksalsfäden ziehen einen Knoten, überspannen alle unsere Ordnung, schnüren sie zusammen und lassen uns in unserer Ohnmacht nichts anderes mehr tun als lachen. Eine Katastrophe stellt uns an den Rand des Weltgeschehens. Indem wir am Zaun stehen, hüpfen und hineinsehen dürfen, bilden wir uns ein, werden wir bedeutend. Ist es das, was hoffen lässt, dass sich immer einmal wieder der eine oder andere Rennfahrer das Genick bricht? Das Schicksal herausfordern und zusehen, wie es gewinnt.

Der Tod fährt immer mit, und jeder Sturz wird zelebriert. Aber in Zeiten des Reality-TVs liegen hier natürlich noch ungeahnte Ressourcen brach. Man könnte Kameras in den Wohnzimmern der Läuferfamilien installieren, Schuhkameras wären denkbar, eventuell auch eine im Knie, die anzeigt, wann die nächste Sehne reißt. Operative Geschlechtsverkleinerungen würden vielleicht die Aerodynamik verbessern, man könnte ein Startnummernraufen veranstalten. Möglichkeiten gäbe es genug.

Schifahren ist ein österreichischer Sport. Nicht besonders schön, nicht besonders kreativ, aber doch irgendwie charmant, schwungvoll und sehr kurvig.

Der Österreicher Franzobel schrieb im Februar 2000 aus aktuellem Anlass einen Aufruf zum Boykott österreichischer Sportler. Zuletzt erschien von ihm: „Volksoper Olympia“, Bibliothek der Provinz 2000, und „Scala Santa“, Hanser 2000.