Die Grünen und das Afghanistan-Mandat: Kriegskinder unter sich

Die meisten Grünen werden sich wieder enthalten. Nicht so Christian Ströbele und Omid Nouripour. Der eine ist gegen das Mandat, der andere dafür.

Für oder gegen das Mandat? Bundeswehr in Afghanistan. Bild: AP

Im Fraktionssaal der Grünen im Reichstag wird es still. Der Außenpolitiker Frithjof Schmidt ergreift das Wort, um die Aussprache über den Krieg zu eröffnen. "Ich plädiere für Enthaltung", sagt er mit Blick auf die bevorstehende Verlängerung des Bundeswehrmandats für Afghanistan und erläutert die Lage im Land.

Es ist Dienstag, und Diskussionen über den Krieg haben die Grünen in den vergangenen Wochen einige geführt. Aber jetzt muss ein Ergebnis her, schließlich stimmt in drei Tagen der Bundestag über das Mandat ab. "Inzwischen sprechen alle über den Abzug", fährt Schmidt fort, "früher hat da niemand drüber geredet …". Plötzlich reckt der Abgeordnete Hans-Christian Ströbele die Hand in die Höhe: "Doch, ich", schallt es durch den Raum. Manche rufen: "Ich auch." Andere rollen mit den Augen. Ströbele wieder. Der Linke.

Wenige Wochen zuvor sitzt der Abgeordnete Omid Nouripour in einem Airbus der Luftwaffe auf dem Weg nach Afghanistan und blättert in einem Stapel von Dokumenten. Er will sich auf die Diskussionen um das Mandat vorbereiten. Die Grünen wollen noch in diesem Jahr mit dem Abzug aus Afghanistan beginnen. Aber Nouripour will sich auf dieser Reise in die fraglichen Provinzen des Landes erst anschauen, wo und ob das überhaupt möglich ist.

Die Abstimmung: Am Freitag will der Bundestag den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der Isaf-Truppe in Afghanistan erneut verlängern - bis zum 31. Januar 2012. Am 22. Dezember 2001 hatte der Bundestag den Isaf-Einsatz gebilligt und hat ihn seither jährlich verlängert. Bei diesem Mandat ist erstmals, wenngleich mit Einschränkungen, von einem Abzugsdatum die Rede.

Der Abzug: Ab Ende 2011 soll die Zahl der Soldaten verringert werden können, ein konkretes Datum wird aber nicht genannt. Wörtlich heißt es: "Die Bundesregierung ist zuversichtlich, […] die Präsenz der Bundeswehr ab Ende 2011 reduzieren zu können und wird dabei jeden sicherheitspolitisch vertretbaren Spielraum für eine frühestmögliche Reduzierung nutzen, soweit die Lage dies erlaubt, ohne dadurch unsere Truppen oder die Nachhaltigkeit des Übergabeprozesses zu gefährden."

Der Umfang: Das vor einem Jahr aufgestockte Kontingent soll weiter eine Obergrenze von 5.000 Soldaten haben. Hinzu kommt eine Reserve von 350 Soldaten. Derzeit sind 4.924 Soldaten im Einsatz.

Das Einsatzgebiet: Einsatzgebiet der deutschen Soldaten ist weiterhin die Region Kabul sowie die Region Nord, die neun afghanische Provinzen umfasst. Die Bundeswehr kann aber "für zeitlich und im Umfang begrenzte Maßnahmen" auch in anderen Regionen eingesetzt werden, wenn dies unbedingt nötig ist.

Militärische Ausbildung: Die im vorigen Jahr deutlich erhöhte Zahl der Ausbilder für die afghanischen Streitkräfte soll nochmals erhöht werden, und zwar von 1.400 auf 1.500 Bundeswehrsoldaten. Diese sind Teil des Gesamtkontingents von 5.000 Soldaten.

Die Kosten: Für den Zeitraum März 2011 bis Januar 2012 werden die Kosten mit rund einer Milliarde Euro angegeben.

Die Mehrheiten: Bei der letzten Abstimmung um die Verlängerung des Mandats im Februar 2010 stimmten 429 Abgeordnete dafür und 111 dagegen. 46 enthielten sich, 36 Abgeordnete fehlten.

Die Fraktionen: Aufgeschlüsselt nach den Fraktionen sah das Ergebnis wie folgt aus: Union (226 Jastimmen, 2 Neinstimmen, 0 Enthaltungen, 11 nicht abgegebene Stimmen), FDP (82/1/3/7), SPD (113/16/8/9), Grüne (8/21/35/4), Linke (0/71/0/5).

(afp, taz)

2014 wollen die Grünen die Kampftruppen aus Afghanistan abgezogen wissen. Mittlerweile wollen das auch die meisten Sozialdemokraten, Guido Westerwelle und Barack Obama. "Man kann heute noch kein hundertprozentiges Abzugsdatum nennen, auch wenn es wünschenswert wäre", sagt Nouripour. Nouripour wieder. Der Realo.

Ströbele und Nouripour sind die Pole der Partei. Wenn es um die Grünen und den Krieg geht, hört man in der Öffentlichkeit vor allem die beiden. Ströbele spricht immer von einem sofortigen Ende des Kampfeinsatzes, Nouripour immer davon, was möglich ist, ohne die Afghanen im Stich zu lassen.

Anfragen und Besuche

Ströbele nutzt alle parlamentarische Mittel, um so viel wie möglich über die dunkle Seite des Krieges herauszufinden. Nouripour kennt Afghanistan so gut wie kaum ein anderer Parlamentarier. Auch die Ecken, in die sonst nie jemand geht.

Die Grünen erleben derzeit einen Höhenflug und haben gute Aussichten, erstmals einen Ministerpräsidenten zu stellen; die Kanzlerin hält sie für den wichtigsten Gegner. Aber wenn es um Krieg geht, ist sind die Grünen immer noch zerrissen. So wie 2001, als die Grünen das erste Afghanistan-Mandat mittragen mussten. Bis heute hält sich die Legende, dass ausgelost wurde, wer das Mandat ablehnen durfte.

Zurück ins Jahr 2011. Die Probeabstimmung nach der Aussprache endet mit einem eindeutigen Ergebnis: Die Mehrheit wird der Empfehlung der Fraktionsführung folgen und sich bei der Abstimmung der Stimme enthalten. Frithjof Schmidt begründet das damit, dass es im neuen Mandat "eine ganze Reihe von unklaren Punkten und Widersprüchen" gebe. Grundsätzlich sei ein "Stabilisierungseinsatz" für Afghanistan aber auch aus Sicht der Grünen weiterhin sinnvoll.

Ströbele macht da nicht mit, er stimmt mit "Nein", wie immer. Nouripour macht auch nicht mit, er stimmt mit "Ja". Auch wie immer. Für beide ist der Krieg auch ein persönliches Thema. Der 1939 geborene Ströbele sagt: "Ich bin ein Kriegskind." Der 1975 geborene Nouripour ist das auch. Seine Eltern flohen am Ende des Iran-Irak-Krieges nach Frankfurt, als er ein Kind war.

Ströbele sagt: "10.000 Tote im Jahr in Afghanistan sind nicht zu verantworten. Deshalb müssen wir den Kampfeinsatz sofort stoppen." Nouripour sagt: "Das Mandat nicht mitzutragen wäre für mich das falsche Signal an die Menschen in Afghanistan und an die Soldaten."

Am Tag nach seiner Ankunft in Afghanistan besucht Omid Nouripour den Gouverneur der Provinz Badachstan im Nordosten des Landes. Beide sitzen sich in mächtigen Ledersesseln gegenüber, über dem Schreibtisch des Gouverneurs hängt ein Bild des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai. Nouripour ist der erste Bundestagsabgeordnete, der mit dem Gouverneur der Provinz spricht, aus der die Bundeswehr vielleicht bald abziehen will.

Nouripour faltet die Hände und sagt einige Worte auf Dari, einer der beiden Amtssprachen. Dann schaut er zum Sprachmittler und sagt: "Das müssen sie jetzt nicht übersetzen." Der Gouverneur lächelt. Die Gesprächsebene ist gefunden. Nouripour ist seit 2005 zum achten Mal in Afghanistan. Die Sprache ist sein großer Trumpf, er erfährt so viel mehr vom Land, als wenn er sich auf die oft schwachen Übersetzungen verlassen müsste.

Reden dürfen beide nicht

Christian Ströbele war erst einmal in Afghanistan, in einer der Landessprachen verständigen kann er sich nicht. Er ist erst seit dieser Legislaturperiode im Auswärtigen Ausschuss, davor hat er sich immer um Innen- und Rechtspolitik gekümmert. Trotzdem wurde er immer gehört, wenn es um den Krieg ging. Das wurmt viele Verteidigungspolitiker, früher wie heute. Gleichwohl genießt er in der Partei Respekt, was sicher auch daran liegt, dass er in Berlin-Kreuzberg als erster Grüner ein Direktmandat für den Bundestag holte, obwohl ihn einige, allen voran der damalige Außenminister Joschka Fischer, so gerne losgeworden wären.

Zum Mandat reden darf er trotzdem nicht. "Seit zehn Jahren möchte ich dazu im Bundestag sprechen", sagt er, "aber die Fraktion lässt mich nicht." Die Grünen haben insgesamt nur acht Minuten Redezeit bekommen - der Fraktionsvorsitzende Jürgen Trittin wird der einzige Redner der Partei sein. Auch der Verteidigungspolitische Sprecher Nouripour muss zuhören.

Ströbele arbeitet anders als Nouripour. Er produziert parlamentarische Anfragen wie kaum ein anderer Abgeordneter. Er fragt darin das Verteidigungsministerium nach dem Einsatz geheimer Kampftruppen in Afghanistan oder will herausfinden, was es mit den Todeslisten auf sich hat, die durch Wikileaks enthüllt wurden. "Ich nutze das Kontingent eigentlich fast immer voll aus", sagt er, "und ich schreibe die Anfragen auch selber."

Im 3. Stock des Abgeordnetenhauses Unter den Linden wollte es der Zufall so, dass die Büros der beiden nebeneinander liegen. Man sieht sich auf dem Flur, und trotz all der Unterschiede in den Ansichten schätzen sich die Kontrahenten. Ströbele sagt, "Wir können offen miteinander umgehen", man könne gut über konkrete Fälle diskutieren und stimme sich zuweilen gegenseitig zu. Nouripour lobt Ströbele als "ungewöhnlich guten Abgeordneten". Er sagt. "Ströbele ist ein großer Mann."

In den vergangenen Wochen gab es Druck auf beide. Die Fraktionsführung würde es gerne sehen, wenn es viele Enthaltungen gibt, wenn die Fraktionslinie eingehalten wird. Aber auch Nouripour und Ströbele werben um ihre Positionen. Sie schreiben an ihre befreundeten Abgeordneten über E-Mail-Verteiler oder suchen das Gespräch. Sie streiten um die Position der einstigen Friedenspartei.

Die Grünen streiten also doch noch. "Es gibt keine Partei, die sich so hart mit dem Thema Krieg auseinandersetzt, wie die Grünen", sagt Winfried Nachtwei, Nouripours von vielen geschätzter Vorgänger als Verteidigungsobmann und bis zum Jahr 2009 Abgeordneter im Deutschen Bundestag. "Das ist auch heute noch so."

Natürlich habe sich die Einstellung der Partei verändert, seit sie nicht mehr in Regierungsverantwortung einen solchen Einsatz wie in Afghanistan mittragen muss. "2001 waren wir noch militärskeptischer", sagt Nachtwei. Heute diskutiere man "ohne die Aufwallungen wie vor 10 oder 15 Jahren". Über seine Nachfolger äußert sich Nachtwei nur ungern, er sagt nur, er sei "schwer erleichtert" über das ganze Team der Verteidigungspolitiker.

Und was wäre das richtige Abstimmungsverhalten für eine Partei wie die Grünen? Wie würde er abstimmen? "Auf jeden Fall Nichtzustimmung, aber Ablehnung sieht aus wie die Forderung nach dem sofortigen Abzug", sagt er. "Ich würde mich enthalten."

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