■ Die Gewerkschaften versprechen zum Jahresanfang das Ende der Bescheidenheit in Sachen Lohnpolitik – und lenken damit ab von ihrem eigenen Lobbyismus, der sich nur noch um die Beschäftigten kümmert, aber nicht um diejenigen, die auf dem Arbeitsmarkt längst keine Chance mehr haben Von John Siegfried Mehnert: Die an den Fleischtöpfen sitzen ...
In großen Scharen laufen ihnen die Mitglieder weg, neue gewinnen sie kaum hinzu – die Gewerkschaften stecken in der Krise, aus meist selbst verschuldeten Gründen. Immer noch hängen ihnen die Skandale um die Neue Heimat, die Bank für Gemeinwirtschaft oder den Co- op-Konzern nach. Verbissener verteidigen sie ihre Titel und Tantiemen. Strategische Konsequenzen aus dem technologischen Wandel oder der Globalisierung scheren sie nur wenig. Die immer drastischere Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich läßt die Gewerkschaften als Anker der Armen wieder wichtig werden – wie es scheint. Angesichts wachsender Unternehmergewinne verkündete IG-Metall- Chef Klaus Zwickel nun das „Ende der Bescheidenheit“. DGB-Boß Dieter Schulte drohte in seiner Neujahrsbotschaft sogar mit einer „härteren Gangart“ im Verteilungskampf.
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen unterstützte die beiden: Die ARD sendete kürzlich eine fast einstündige Klage, in der beschäftigte Facharbeiter als „Trottel der Nation“ porträtiert wurden, die durch „Umverteilung abgezockt“ worden seien. Die Opfer stöhnten, sich nur mit Überstunden über Wasser halten zu können.
Was stört an diesen Botschaften?
Verlogene Jammereien – die Wortklauberei eines darwinistischen Interessenschutzes – vernebeln die Republik. Dem durch (wirtschafts-)politische und -technische Neuerungen (Ende des Ostblocks, Sieg des Computers etc.) nötigen Wandel begegnen Deutschlands Sozialpolitiker mit skandalöser Ablenkung – und am Hebel dieser zur Lethargie in Bonn führenden Dunstmaschine steht der DGB.
Seine Auftritte in den Diskussionen zur heutigen Arbeitsmarktlage kommen so heuchlerisch daher wie damals, als er noch seine vier „gemeinwirtschaftlichen“ Konzerne betrieb. Wie der DGB die Wirklichkeit verdrängt, glaubte die Öffentlichkeit bei den Skandalen um die Neue Heimat und die Co op erfahren zu haben – nun aber fallen diese Unheil anrichtenden Eigenarten auf die Gesellschaft insgesamt.
Als die DGB-Konzerne zusammenbrachen (75.000 Beschäftigte), hinterließen schon die Enthüllungen von Geschäftsfälschungen den Eindruck, Korruption und Naivität der Gewerkschaften seien endgültig bloßgestellt. Wer jedoch die aktuellen Zusammenhänge der Wirtschaftsskandale gebündelt liest, erkennt Muster einer Bigotterie, die den Sozialstaat ebenso selbstsüchtig für sich benutzt wie die einstigen Gewerkschaftsunternehmen.
Worin bestehen die Zusammenhänge?
Unter dem Dach des DGB arbeitet eine Gruppe von Berufsgenossenschaften, deren Mitglieder so egoistisch handeln wie Landwirte oder Apotheker. Die meisten von ihnen beziehen ihre Gehälter aus Steuermitteln – von Behörden, öffentlichen Einrichtungen oder vorwiegend subventionierten Unternehmen. Mit Bund, Ländern oder Kommunen werden Löhne und Zuschüsse vereinbart – von ÖTV, GEW, Post-, Eisenbahn- und Polizeiverbänden sowie Teilen der IG Metall, der IG Medien und der IG Bau-Agrar (nicht zu vergessen der Beamtenbund und Teile der DAG). Etwa rund die Hälfte aller DGB- Gewerkschaften holte sich bislang ihre Bezüge vom alten Wohlstandsstaat, also aus Steuern und anderen Zwangsgeldern: Die sogenannte Arbeiterbewegung ruht in der öffentlichen Hand.
Heute wird jede Gehaltserhöhung im Staatsdienst nicht gegen ausbeutende Arbeitgeber, sondern gegen Wohngeld- und Bafög-Empfänger errungen – ausgehandelt von Genossen untereinander, da die Vertreter der Arbeitgeber in den meisten Städten und Ländern gleichfalls Gewerkschafter sind. So entstehen Freundschaftspreise. Dieses Jahr verlangen allein ÖTV und DAG einen Lohnanstieg um sechs Milliarden Mark. Letztes Jahr ließ die IG Bergbau ihre Mitglieder auf teuren Motorrädern (Zweitautos gleich) für ihre Subventionen knattern – und zwang den Bund, das Geld denen zu nehmen, die keiner DGB-Lobby angehören: Sozialhilfeempfängern oder Studenten.
Rund 6 Millionen Arbeitslose gibt es in der Bundesrepublik. Die Nürnberger Bundesanstalt nennt offiziell nur 4,5 Millionen, doch weitere 1,5 müssen addiert werden – diese Menschen befinden sich in befristeten Hilfsprogrammen oder beziehen Sozialhilfe. Die Gesellschaft bricht mithin in drei Teile auseinander, nämlich in Reiche (Unternehmer, Spezialisten), gutverdienende Mittelständler (Beamte, Facharbeiter) sowie Arme (vor allem Langzeitarbeitslose).
Wer das Ende der Konsensgesellschaft beklagt, attackiert zu Recht die Vermögen der Reichen. Doch die Gewerkschaften vertreten den relativ sorglosen Mittelständler – und der verhält sich zum joblosen Nachbarn so solidarisch wie ein Wettläufer zum anderen: Allein die von den Beschäftigten geleisteten Überstunden entsprachen rechnerisch rund 1,5 Millionen Arbeitsplätzen. In der oben erwähnten ARD-Sendung trat ein Facharbeiter auf, der „lächerliche“ (Kommentar) 3.800 Mark netto verdient, 500 Mark Miete bezahlt und (bei mitarbeitender Ehefrau) zwei Autos besitzt – von der Arbeitslosigkeit war keine Rede.
Die DGB-Verbände schlagen zur Linderung der Arbeitslosenquote seit zwei Jahrzehnten eine Reduktion der Arbeitszeit vor, um neue Jobs zu schaffen. Bei der ÖTV wurde offen eingeräumt, daß es dabei immer nur um Gewinn (oder Freizeit) geht, keineswegs um Opfer. Kürzere Arbeitszeiten gleich höhere Stundenlöhne.
Trotzdem verkaufen sich die Funktionäre der meisten Gewerkschaften ungehemmt als Sprecher der Erwerbslosen. IG Medien-Chef Detlef Hensche etwa fragt herausfordernd: „Wer soll denn gegen die Arbeitslosigkeit kämpfen, wenn nicht wir?“
Die Frage entpuppt sich als genauso dreist wie seinerzeit die Zielvorgaben der DGB-Unternehmen. Ähnlich durchtrieben sorgte sich die Neue Heimat um ihre Mieter: Dort wurde bei den Heiz- und Nebenkosten im großen Stil betrogen, wofür jetzt erstmals Belege vorliegen.
Man muß Hensche ja nicht die Gewissensqual absprechen, aber er redet wie einer vom Verband der Steuerberater, der das Leben der Obdachlosen bejammert – und damit seine Arbeit für die Hausbesitzer verkleidet.
Wenn Gewerkschafter „für das Wohl und Wehe des Gemeinwesens“ (Oskar Negt) streiten wollen, sorgen sie mit diesem Versuch, das Pathos der Oktoberrevolution zu tradieren, zumindest für Verwirrung. Und wenn der DGB einen „Beschäftigungsgipfel“ inszeniert und dort nur neue Staatsprogramme verlangt, deckt er mit dem Schlagwort „Solidarität“ vorrangig seine Fleischtöpfe zu.
Kein Land der westlichen Welt gestand den Gewerkschaften eine derartige Autorität zu wie die Bonner Republik. Nirgends sonst sanken die Genossenseilschaften (kurz vor der Wiedervereinigung) durch eigene Verbrechen so tief. Das soziale Engagement westdeutscher Intellektueller wurde nicht durch den Zerfall des Ostblocks beendet, sondern durch die Fratzen der eigenen Arbeiterbewegung.
Das Lügenprinzip der DGB-Konzerne – den Markt moralisch zu ändern – wirft seinen Schatten auf die heutigen Reformdebatten, weil „Sozialdemokraten aller Couleur in SPD, CDU und Gewerkschaften“ (Fritz Scharpf, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung) einen starken DGB wünschen und dessen Konzernverbrechen umdichten.
Eine maßgebliche Gruppe von Sozialpolitikern bewegt sich im gleichen Wolkenkuckucksheim wie der Neue Heimat- Boß Albert Vietor in seinen letzten Jahren. Sein Konzern zerbrach nicht am Mißmanagement, sondern an der Anspruchspolitik des DGB. Eine große Allianz von Abgeordneten und Meinungsbildern will das nicht wahrhaben. Henning Scherf beispielsweise, gewerkschaftstreuer Bürgermeister in Bremen, beschimpft alle, welche die Chance genutzt hätten, die DGB- Konzerne „zu ruinieren, die ein Modell alternativen Wirtschaftens waren und in der Zukunft wohl auch hätten sein können“.
Solche alternativen Dolchstoßlegenden können sozialen Wandel und ökonomische Wirklichkeit nicht erkennen – was sich am hanebüchenen Konkurs der Bremer Vulkan-Werft offenbarte, die im Todeskampf (auf Drängen Henning Scherfs und der IG Metall) eine Milliardensubvention mitriß. Pleiten staatlicher Betriebe werden verzögert, bis die kleinste Bank keinen Zinsgewinn mehr sieht. Die Staatsverschuldung wird unseren Enkeln einmal so zusetzen wie die Klimakatastrophe.
Mit der Vulkan-Werft – so scheint es von außen – wurde von den Genossen gleichermaßen sorglos umgegangen wie einst mit dem eigenen Besitz. Der Bankrott der DGB-Konzerne allerdings mußte von ihnen bezahlt werden – heute hingegen kommt für ihre Ignoranz das ganze Land auf. Wer erinnert sich da nicht an den Bäcker, der die Neue Heimat übernehmen sollte? Den Genossen scheint der Gesellschaftszerfall so egal wie der Umweltschutz oder das Hochschulproblem. Sie verteidigen nur ihren Bunker: Monopole, überholte Betriebe, staatlichen Unterhalt. Anpassungen an die Wirklichkeit? Der elegante DGB-Chef Dieter Schulte: „Mit mir können Sie über Reregulierung reden, nicht aber über die Aussage, daß wir uns anpassen müssen.“
Extrem gefährlich wird diese Sturheit dadurch, daß die Festung erneut wie ein Gral behandelt wird: Die schlimmste Wurzel des Neue-Heimat-Skandals treibt wieder aus. Weder in England noch in Frankreich oder den USA überhöhte sich die Arbeiterbewegung zum Wachturm demokratischer Kultur.
Bei uns jedoch werden Freiheit und Gleichheit traditionsgemäß mit gewerkschaftlicher Macht – mit vom DGB organisiertem Wohlbefinden – kurzgeschlossen. Dieses schlichte, vor allem materialistische Verfassungsbild gestattet es, jeden sozialen Wechsel als antidemokratisch zu blockieren.
Eine Mehrheit hierzulande weiß längst, daß die verfassungsmoralischen Ansprüche des DGB so verseucht sind wie die Sprüche der Bauern, gemeinwohlorientierte Heger der Landschaft zu sein – die sie zugleich subventioniert vergiften.
Falls es zur Gefährdung unserer Demokratie käme, dann durch die Traditionswächter. Ihre Standards von gestern geben sie nicht auf; ihre Vorstellungen vom Lohngefüge halten sie weiterhin gegenüber sechs Millionen Erwerbslosen windgeschützt. Was sich einmal mit „Gewerkschaftsbande“ assoziierte, als Hoffnung auf Gerechtigkeit nämlich, verfestigt sich zusehends zur Asozialität – und könnte Widerstand herausfordern.
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