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■ Die Gewerkschaften haben die volle Lohnfortzahlung gerettet. Der Einstieg in den Thatcherismus fand nicht stattDer Angriff auf den Körper

Die Ausreden der Bankarbeitgeber verrieten, daß etwas schiefgelaufen war. Wochenlang beharrten die Banken auf der Kürzung der Lohnfortzahlung, obwohl die Branche den niedrigsten Krankenstand aufweist. Man dürfe den Bonner Gesetzesmachern doch nicht in den Rücken fallen, beschwor Bank-Arbeitgeberchef Horst Müller. Das sei eine Grundsatzfrage. Wenn aber Arbeitgeber nur der Politik zuliebe ein Gesetz anwenden wollen, das die Politik wiederum nur ihnen zuliebe geschaffen hat – dann kann da was nicht stimmen. Zumal nun ausgerechnet im Bankgewerbe die Lohnfortzahlung tariflich nicht festgeschrieben ist. Noch nicht.

Die Aussichten sind gut, daß sich das bald ändern wird. Drei Monate nach Erlaß des neuen Gesetzes zur Lohnkürzung für Kranke scheint in Deutschland nicht der Sozialabbau wesentlich beschleunigt, sondern die Sozialpartnerschaft wiedererstarkt. Im Fernsehen sieht man Bilder von händeschüttelnden Tarifpartnern in der Metallindustrie, die mit Abschlüssen zur vollen Lohnfortzahlung und ungewöhnlich niedrigen Lohnsteigerungen „einen schweren sozialen Konflikt“ „gerade noch mal“ abgewendet haben. Auch die Banken zahlen wieder den vollen Krankenlohn und wollen verhandeln. Das Gesetz zur Lohnfortzahlung erwies sich als Danaergeschenk der Regierung, das auf den Verhandlungstischen der Tarifparteien landete und dann vorsichtshalber nicht ausgepackt wurde.

Die Kürzung der Lohnfortzahlung per Gesetz, von einem basisfernen Bundeskanzler im September durchgesetzt, hat politisch nicht funktioniert. Die Botschaft der vergangenen Wochen lautet: Einen Sozialabbau à la Thatcher, mit dem die Regierung die Gewerkschaften entmachtet, wird es in Deutschland nicht geben. Am Ende wollen die Tarifparteien doch lieber hinter den Türen der Verhandlungsräume die Reste der Sozialpartnerschaft retten, als die Konflikte auf die Straßen und in die Betriebe zu tragen.

Der Sieg ist nur symbolisch, mag man einwenden. Finanziell betrachtet, bekommen die Unternehmer ihre moderaten Tarifsteigerungen und gekürzten Sonderzahlungen. Durch die Tarifabschlüsse in den regionalen Metallbranchen sparen die Arbeitgeber erhebliche Mehrkosten, die Arbeitnehmer werden weitere Reallohnverluste hinnehmen müssen. Für solche Abschlüsse wäre ein Metallarbeitgeberchef vor zwei Jahren noch von der Mitgliedschaft gefeiert worden. Finanziell rechnet sich der Sieg für die Arbeitnehmer also kaum, aber in der politischen Wirkung ist er nicht zu unterschätzen.

Denn erstens treffen die Reallohnverluste alle Arbeitnehmer, nicht nur die Kranken. Ein wichtiges Moment sozialer Gerechtigkeit ist damit gerettet. Vor allem aber: Künftig wird es sich die Bundesregierung zweimal überlegen, ein zustimmungsfreies Arbeitgebergesetz einfach so durchs Parlament zu jubeln. Die beleidigte Attitüde, von FDP-Chef Wolfgang Gerhardt völlig unstrategisch vor den Fernsehkameras preisgegeben, zeigt, daß die Neoliberalen in der Regierung tatsächlich eine schwere Schlappe erlitten haben.

Dabei haben sie selbst den Gewerkschaften mit dem Gesetz eine Traumvorlage geliefert. Keine andere soziale Errungenschaft hat eine solch hohe emotionale Bedeutung wie die volle Lohnfortzahlung bei Krankheit. Der alte klassenkämpferische Gestus bekam solchen Schwung, daß sich selbst Bankangestellte plötzlich ihrer Zugehörigkeit zur Arbeitnehmerklasse bewußt wurden und in ihren Anzügen vor den Geldhäusern demonstrierten.

Die Protestierenden spürten, daß die Lohnkürzung auf ihren Körper und ihr Selbstbewußtsein zielte, nicht nur auf den Geldbeutel. Krankheit war schon immer das größte soziale Risiko für ArbeiterInnen. Krankheit, früher nichts anderes als die vorzeitige Abnutzung des Körpers durch harte Arbeit, war ein Opfer, das die Beschäftigten im Frühkapitalismus den Unternehmern bringen mußten. Ein Opfer, das ihnen nicht gedankt wurde. Die erste Rentenversicherung in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts war eine „Invaliden-Versicherung“. Nach Jahrzehnten der Plackerei wurden die Arbeiter „invalid“, also „ohne Wert“. Jeder kollektive Ausgleich dieser Entwertung wurde als Schritt zum Sozialstaat gefeiert.

Die Unberechenbarkeit des Körpers, seiner Gebrechen, ist auch heute noch ein individuelles, ja intimes Lebensrisiko. Die Vergesellschaftung dieses Risikos schafft daher wenigstens ansatzweise mehr Gerechtigkeit. Der dem neuen Gesetz implizite Vorwurf, diese soziale Sicherung würde von vielen nur ausgenutzt, mußte die Arbeitnehmer buchstäblich „kränken“. Die hundertprozentige Sicherung des Lohnes im Krankheitsfall, vor 40 Jahren hart erkämpft, ist ein heiliger Sieg. Dessen Infragestellung war ein tätlicher Angriff auf die Reste der Sozialpartnerschaft.

Diese Symbolkraft hatte die konservativ-liberale Regierung glatt übersehen. Auch manche Arbeitgeber taten zuerst einiges, das die Belegschaften mobilisierte, bevor sie ihren Irrtum einsahen. Die kurzfristige Minderung des Krankenlohns beim Daimler-Konzern wirkt im nachhinein wie eine Reinszenierung alter Kapitalistenwillkür mit Daimler-Chef Jürgen Schrempp als fiesem Ausbeuter. Interessanterweise hat Schrempp inzwischen sein Image als „Sozial- Rambo“ korrigiert. In einer vielbeachteten Rede gerierte sich der Konzernchef kürzlich als eifriger Befürworter einer „Konsensgesellschaft“. Eine neue, weicher wirkende Brille gehört zum Bild des neuen, weicheren Schrempp dazu. So als wären seine Kapitalistensprüche nur ein Outfit gewesen, das aus der Mode gekommen ist.

Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert, sondern in einer Gesellschaft mit massenmedial ausgeleuchteter öffentlicher Bühne, auf der sich die Akteure aus Politik und Wirtschaft ihre Gefechte liefern und sich gleichzeitig in Schach halten. Auf dieser Ebene wird der Sozialstaat nicht ausgehebelt. Aber anderswo: Denn der wirklich beängstigende Sozialabbau findet längst hinter der Bühne statt. Die Akteure sind nur schwer auszumachen, zumindest aber viel schwerer in die Pflicht zu nehmen als Arbeitgeber, die mal eben den Krankenlohn kürzen. Der schlimmste Sozialabbau ist die Massenarbeitslosigkeit. Im Februar soll ein neuer Nachkriegsrekord erreicht werden, die Prognosen für das nächste Jahr sind finster. Und die Akteure auf der Bühne haben weniger denn je eine Ahnung, was dagegen eigentlich wirklich zu tun wäre. Barbara Dribbusch

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