■ Die Friedensbewegung braucht eine neue Orientierung. Um bei den globalen Konflikten mitreden zu können, muß sie sich mit dem westlichen Universalismus verbünden: Die Zukunft des Pazifismus
Die Friedensbewegung hat die Gesellschaft in Sachen Frieden ausgelaugt. Fast zwei Jahrzehnte lang hat sie ihr das Thema so vehement aufgedrängt, daß sie jetzt erschöpft ist. Die rein friedliche Orientierung erzeugte eine Stickluft, in der das kriegerische Element wie eine Sauerstoffzufuhr lockt. Viele, die früher auf der Seite der Gewaltlosigkeit standen, haben sich umorientiert.
Schuld ist nicht, wie oft gesagt wird, die postmoderne Unübersichtlichkeit der Ideologien, die Auflösung des Festen, sondern im Gegenteil eine neue Übersichtlichkeit, eine neue Gewißheit des Standpunktes, die erlaubt, ihn auch mit militärischen Mitteln verteidigen zu lassen.
Dieser Standpunkt ist der westliche Universalismus, die Ausrichtung auf die Wahrung der Menschenrechte. Er wird nicht mehr, wie noch vor einigen Jahren, als Ethnozentrismus und verkleideter Imperialismus aufgefaßt, sondern als die richtige Ideologie für die ganze Welt, als die anzustrebende New World Order. Mit diesem festen Boden unter den Füßen redet man der militärischen Intervention das Wort. Hierzulande gelingt es AutorInnen wie Henryk M. Broder, Cora Stefan und Richard Herzinger, den Pazifismus als Drückebergerei hinzustellen, als unverbindliches Gutmenschentum, das die Schwachen dem Messer der Starken ausliefert.
Der Pazifismus muß sich dieser neuen ideologischen Situation stellen. Es wird ihm nicht gelingen, die Position des westlichen Universalismus zu erschüttern und ihn wieder als hegemoniale Anmaßung hinzustellen. Die Welt ist, wenn auch unter Kämpfen und Krämpfen, tatsächlich im Begriff, sich unter den westlich-demokratischen Maximen zu ordnen – und das ist gut so. Es kommt jetzt darauf an, den Pazifismus mit dem westlichen Universalismus zu verbünden. Das sollte nicht schwer sein.
Das menschenrechtsorientierte Wertesystem ist seinem Charakter nach pazifistisch und hat sich in der Geschichte gemeinsam mit dem Pazifismus entfaltet. Die jetzige Aufspaltung in westlich Überzeugte und Pazifisten ist Ausdruck der Unreife der Diskussion und kann nur vorübergehend sein. Mit der Zeit werden sich die Schafe von den Böcken trennen: Diejenigen, die es mit dem westlichen Universalismus ernst meinen, werden von denen zu unterscheiden sein, denen die westlichen Werte nur ein Vorwand für ihre neuen militanten Neigungen sind.
Die westlichen Werte werden zur Floskel, wenn sie Werte zugunsten des Westens sind. Sie sind mit partikularer Interessenvertretung nicht vereinbar. Da sie nicht auf Nationen, nicht auf Kollektive, sondern auf Individuen ausgerichtet sind, da sie von der Gleichheit der Menschen und ihrem Recht auf Leben ausgehen, vertragen sie sich nicht mit einer hegemonialen, der Stärkung einer partikularen Supermacht dienenden Orientierung. Sie finden erst in einer Weltgesellschaft die ihnen angemessene Verfassung.
Der westliche Universalismus ist seiner Struktur nach auf die Auflösung nationaler Schranken und eine Weltneuordnung angelegt, in der alle Politik Innenpolitik ist. Der Pazifismus muß sich in den Dienst dieser Entwicklung stellen. Er muß über das Postulat der Gewaltfreiheit hinauskommen und sich eine weltpolitische Perspektive verschaffen. Die gewaltlosen Strategien der Friedensforschung können militärisches Vorgehen erst dann ersetzen, wenn sie von einer politischen Weltzentrale eingesetzt werden, der gegenüber die Nationen auf Souveränität verzichtet haben.
So wie es auf nationaler Ebene durch die Einrichtung eines Gewaltmonopols – der Polizei – gelungen ist, die Gesellschaft zu befrieden, so wird es auf internationaler Ebene möglich sein, eine Weltexekutive zu etablieren. Diese wird – genau wie jetzt die nationalen Polizeien – auf den Einsatz vorbeugender, friedlicher Mittel ausgerichtet sein. Deshalb steht die Einrichtung einer mit Gewaltmitteln ausgestatteten Weltpolizei keineswegs im Widerspruch zu einer pazifistischen, auf Gewaltlosigkeit gerichteten Grundhaltung.
Gewaltmonopolisierung erfolgt auf Abscheu vor Gewalt. Wenn sich der Pazifismus in eine Weltföderationsbewegung umwandelt, wird er eine Bewegung zugunsten der niedergetretenen Vereinten Nationen sein und sich deutlich von den Kräften abheben, die im Namen der Menschenrechte an ausgewählten Plätzen Raketen einsetzen und Diktatoren niederbomben wollen.
Diese Kräfte stehen nämlich nicht auf der Seite der Vereinten Nationen, sondern auf der Seite der Nato und sind nicht wirklich universal, sondern westlich-hegemonistisch eingestellt. In der Niederringung dieser Kräfte hat der Pazifismus seine historische Aufgabe. Er muß den Universalismus, der seiner Natur nach nicht von einem partikularen Bündnissystem verwaltet werden kann, aus den Händen derer befreien, die „Öl“ meinen, wenn sie „Menschenrechte“ sagen.
Diese Haltung ist kein Antiamerikanismus. Es gibt gerade in den USA starke Kräfte, die in diese Richtung wirken – immerhin ist der Pazifismus amerikanischer Herkunft, immerhin kam die Initiative für den Völkerbund aus den USA, immerhin ist unsere Generation durch die kalifornische Hippiebewegung pazifiziert worden. Die Welteinigung ist eine Fortsetzung der „Vereinigten Staaten“, sie entspricht deren Prinzipien, und es ist nichts dagegen einzuwenden, daß sich die globale Ordnung um diesen Kern herum kristallisiert. Immerhin haben die Vereinten Nationen ihren Sitz in New York.
Keine nennenswerte Kraft macht sich heute für die Weltföderation stark. Der Völkerbund ist mit dem Faschismus zugrundgegangen, und die nach 1945 wiederbelebten unitarischen Energien sind im Kalten Krieg erloschen. Keine politische Partei hat die Welteinigung in ihrem Programm, obwohl die Globalisierungsprobleme danach schreien. Lediglich ganz im stillen wirken kleine kosmopolitische Gruppen.
Es ist in Vergessenheit geraten, daß die Ausrichtung auf eine Weltexekutive schon im Ersten Weltkrieg Bestandteil des Pazifismus war, der sich damals „organisatorischer Pazifismus“ nannte und die geistige Grundlage für den Völkerbund war. Wenn die Friedensbewegung wieder an diese Tradition anknüpfte, würde sie eine neue, reifere Kontur bekommen. Sibylle Tönnies
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